TagesKolumne: Kleine Geschichte des Förderns und Forderns
Fällt Ihnen etwas auf? Es wird wieder gefördert und gefordert. Friedrich Merz zitiert anerkennend den Slogan, mit dem sich sein Koalitionspartner in spe 1998 als „Neue Mitte“ neu erfand. Die SPD hat einen hohen Preis bezahlt für die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen. Ob sich die einstige Volkspartei davon wieder erholen wird, ist offen. Aber die Idee des Staates als „social investor“, der nicht gibt, weil die Bürger etwas brauchen (oder wollen), sondern weil er auf einen „return on investment“ in Form von Steuern und Arbeitsleistung der Geförderten und Geforderten hofft, ist wieder hoch im Kurs.

Das Konzept, sprachlich angelehnt an „Zuckerbrot und Peitsche“, lässt sich wunderbar auch auf andere Bereiche übertragen. Zum Beispiel auf die Integration von Zuwanderern oder auf die Schule. In der Bildung bleibt allerdings eine Menge Interpretationsspielraum offen: Wer will, kann es so verstehen, dass auf jede Schülerin und jeden Schüler individuell geschaut wird, Stärken herausgearbeitet und Ziele definiert. Konservativer betrachtet, könnte man auch sagen: Es geht darum, Leistungsdefizite zur Bezugsgruppe auszugleichen – beziehungsweise denen Dampf zu machen, die das Klassenziel nicht erreichen. Wahrscheinlich ist es dieser Offenheit für Interpretationen zu verdanken, dass sich 2006 die Kultusministerkonferenz, die Bildungs- und Lehrergewerkschaften auf „Fördern und Fordern“ als Titel einer gemeinsamen Erklärung einigen konnten.
2025 ist die Welt aber wieder, wie wir sie kennen, und die Positionen unter den Big Playern der Bildungspolitik könnten nicht unterschiedlicher sein, wie Sie heute im Rundblick lesen. Ausgerechnet die grüne Kultusministerin in Baden-Württemberg hat eine Prüfung als Eingangstor für das Gymnasium wieder eingeführt, wie sie Mitte des 20. Jahrhunderts die Kinder aus der Generation meiner Eltern in Angst versetzte. Aber keine Panik! Für Niedersachsen ist das keine Option. Der Philologenverband kann sich stattdessen eine Art rückwirkende Überprüfung vorstellen, bei der die Kinder nach der sechsten Klasse zeigen sollen, ob sie auf dem richtigen Bildungsweg sind. Der Vorsitzende Christoph Rabbow erklärt es so:
„Sie können nur dann positive Schul- und Lernerfahrungen machen, wenn sie auch passend gefordert und gefördert werden.“
Man darf vermuten: Wer gefordert werden kann, darf auf dem Gymnasium bleiben. Gefördert werden soll mutmaßlich eher woanders. In der Schweiz regte sich in den Nullerjahren von Seiten der Migrationsforschung Kritik an dem „magischen Leitsatz ,Fördern und Fordern‘“. Er schaffe einen „undefinierten politischen Zwischenraum“ und setze die geförderten und geforderten Zuwanderer „schwer kalkulierbaren und verunsichernden Erwartungen“ aus: Wo ist jetzt Freiwilligkeit und wo ist Druck? Wo wird Anpassung erwartet und wo herrscht Toleranz? Mit dieser Schwammigkeit passt der Slogan wieder ganz gut in eine Bildungslandschaft, die dauernd schwankt zwischen Inklusion und Auslese. Vertrauen und Sicherheit für Kinder und Eltern entstehen so nicht.
Dafür können Sie meinen Kollegen vertrauen, die außer dem „Grundschul-Abitur“ noch folgende Themen recherchiert haben:
- Der Finanzausgleich zwischen den Kommunen soll umverteilt werden. Die Positionen von Städten und Kreisen gehen dazu weit auseinander.
- Die Erwachsenenbildung erlebt ein Wechselbad von politischem Love Bombing und Unterfinanzierung.
- Schon Anfang April soll feststehen, wer neuer NDR-Intendant oder -Intendantin wird.
Ich weiß nicht, wie Sie es mit dem Zuckerbrot halten. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen einen Freitag ohne Peitsche!
Ihre Anne Beelte-Altwig
Dieser Artikel erschien am 21.03.2025 in der Ausgabe #055.
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