Die Älteren unter unseren Freunden rücken nach und nach mit diesem Datum heraus: Der letzte Arbeitstag im Leben steht an. Alle haben Pläne für die Zeit danach: Segeln gehen, im Ehrenamt die Ärmel hochkrempeln, eine neue Sprache lernen – oder einfach ausschlafen und in den Tag hineinleben. Aber niemand, den ich bisher kannte, hätte gesagt: „Ich arbeite einfach weiter.“ Als mein Kollege Niklas Kleinwächter erzählte, er habe von einer Rentnerin gehört, die genau das tut – und ausgerechnet in der Pflege, der Fachkräfte scharenweise den Rücken kehren –, da wollte ich mehr wissen. Ich habe Christiane Lüßmann besucht und mir erzählen lassen, was sie motiviert. Dafür bin ich dorthin gefahren, wohin niemand, der einen Führerschein besitzt, mit dem Bus fährt (außer mir und dem Busfahrer). Wo man die Störche klappern hört und den Blick von der Terrasse über endlose Wiesen schweifen lässt. Eine ländliche Idylle in der Region Hannover. Christiane Lüßmann liebt es hier – und sie liebt ihren Job auf der Intensivstation für Früh- und Neugeborene.

Ein typischer Blick auf der Station für Frühchen: Christiane Lüßmann schaut durch das Fenster des Inkubators. | Foto: privat


Vielleicht ist das diese sagenumwobene Work-Life-Balance, nach der sich heute viele sehnen. Was allen, die sich um den Fachkräftemangel sorgen, Hoffnung machen kann: Die Kinderkrankenschwester ist nicht die Einzige unter ihren Kolleginnen, die mit 60+ noch Lust hat auf die Arbeit. Ob Arbeitgeber dieses Potential ausschöpfen können, wird auch davon abhängen: Sind sie kreativ und flexibel genug, ihnen die Arbeitszeitmodelle anzubieten, die zu ihrem Leben passen? „Steuern gezahlt habe ich in meinem Leben genug“, sagte mir Christiane Lüßmann. Wäre es nicht fair, über Steuererleichterungen für Menschen nachzudenken, die bereit sind, über die Ruhestandsgrenze hinaus zu arbeiten?

Ein Klassiker, den man auch am 2. Mai noch gut hören kann: Geier Sturzflug mit „Bruttosozialprodukt“ (1983) | Screenshot: YouTube


Vor einer Weile hörte ich auf einer Konferenz von der Studie „Ich pflege wieder, wenn…“. Darin haben ausgestiegene Pflegekräfte beschrieben, was sich ändern muss, damit sie in den Job zurückkehren. Ich wunderte mich: An erster Stelle wurde mehr Fairness im Team gefordert. Nanu? Man würde Pflegekräfte für empathisch und fürsorglich halten. Und ihre eigenen Kollegen finden sie unfair? In dem Gespräch mit Christiane Lüßmann fiel mir das wieder ein. Wer krank wird oder spontan einen freien Tag benötigt, erzählte sie, muss sich selbst um eine Vertretung kümmern. Kein Wunder, dachte ich, dass schnell als unfair gilt, wer nein sagt. Kein Wunder, dass die Engagierten immer weiter belastet werden und der Riss im Team immer tiefer wird. Ob sich die Flucht aus der Pflegebranche aufhalten lässt, wird wahrscheinlich auch davon abhängen, ob es den Arbeitgebern gelingt, diesen Druck von den Teams zu nehmen.
 
Im heutigen Rundblick reden wir nicht nur über Arbeit. Wir haben auch für Sie in die Hände gespuckt:
 
·      Klaus Wallbaum war mit dem Ministerpräsidenten in Bergen-Belsen.
·      Niklas Kleinwächter beobachtet den Europawahlkampf.
 
Ich wünsche Ihnen ausreichend Energie für die Rest-Woche!
Ihre Anne Beelte-Altwig