Wenn am Nachmittag des 16. Mai die Delegierten des SPD-Landesparteitages ihr Votum abgegeben haben, steht fest: Olaf Lies aus Sande (Kreis Friesland) soll im Landtag am 20. Mai zum neuen Ministerpräsidenten gewählt werden. Der 58-Jährige dürfte dann der zwölfte Regierungschef des Landes seit der Gründung Niedersachsens im Jahr 1946 werden. Er wird der erste gelernte Diplomingenieur für Elektrotechnik auf diesem Platz sein (nach etlichen Juristen), und er wird der erste Oldenburger sein.

Der erste Oldenburger? Wenn das Theodor Tantzen und Hermann Ehlers noch hätten erleben können! Der liberale Politiker Tantzen war 1919 bis 1923 Ministerpräsident des Freistaates Oldenburg – und dann wieder 1945 und 1946. Leidenschaftlich stritt er für die Eigenständigkeit Oldenburgs und kämpfte gegen die Pläne von Hinrich Wilhelm Kopf, der die Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe zu einem Land vereinigen wollte. Die britische Besatzungsmacht folgte Kopfs Plan, Niedersachsen entstand – und Tantzens Traum war zerplatzt. Er wurde der erste niedersächsische Verkehrsminister unter Ministerpräsident Kopf, und er starb 1947 nach einem Schlaganfall in seinem Dienstzimmer in Oldenburg. Just da, wo er so lange der Ministerpräsident des Landes Oldenburg gewesen war, in den für ihn viel besseren Zeiten. Und Hermann Ehlers? Der CDU-Politiker sollte eigentlich 1955, als in Niedersachsen die erste bürgerliche Koalition gebildet wurde, Ministerpräsident werden. Er wäre der erste Oldenburger in diesem Amt gewesen. Doch wenige Monate vor der Wahl verstarb er plötzlich, mit nur 50 Jahren, und so wurde Heinrich Hellwege von der DP aus dem Kreis Stade der neue Regierungschef. Wieder hatte Oldenburg das Nachsehen.
Jetzt also liegt es an Lies, den Oldenburgern endlich zu der so lange verwehrten Ehre zu verhelfen. Es wurde ja auch Zeit. Seine elf Vorgänger als Ministerpräsident zeigen in der Summe eine bedenkliche Süd-Ost-Lastigkeit: Drei aus dem Raum Cuxhaven/Stade (Hinrich Wilhelm Kopf, Heinrich Hellwege und David McAllister), drei aus dem Raum Hannover (Ernst Albrecht, Gerhard Schröder, Stephan Weil), zwei aus dem Raum Braunschweig (Alfred Kubel und Gerhard Glogowski), zwei aus Süd-Niedersachsen (Georg Diederichs und Sigmar Gabriel), sowie einer aus Osnabrück (Christian Wulff). Nun also, fast 79 Jahre nach der Gründung des Landes, kommt endlich auch ein Oldenburger hinzu. Das kann nun die späte Versöhnung mit der Niederlage sein, die Tantzen 1946 im Streit mit Kopf erlitten hatte.
Der Vorgang zeigt die historischen Ausmaße des anstehenden Regierungswechsels an. Da geht nicht nur eine Person an der Spitze, sondern es beginnt eine neue Epoche mit einer neuartigen regionalen Prägung. Man wird demnächst sehen, welchen Stolz die Oldenburger hinsichtlich des – sehr wahrscheinlichen – neuen Ministerpräsidenten entwickeln werden. Dass sie Grünkohlkönige küren können, ist bekannt. Aber können sie auch die eigenen Söhne und Töchter, die es zu Höherem gebracht haben, gebührend feiern?
Der Rundblick von heute befasst sich weniger mit regionalen Repräsentanzen in der Landesregierung, sondern stärker mit anderen Themen:
Wie heißt es in der Oldenburger Hymne, die den Titel „Heil dir, o Oldenburg“ trägt? „Wie deine Eichen stark, wie frei des Meeres Flut, sei deutscher Männer Kraft dein höchstes Gut.“ Wenn das keine Aufforderung an Olaf Lies ist, sein sehr wahrscheinlich bald neues Amt beherzt anzugehen…
Klaus Wallbaum