
Das Emsland, ganz im Westen Niedersachsens gelegen, galt zur Zeit der Gründung Niedersachsens noch als Armenhaus. Zur gleichen Zeit waren der Harz und Südniedersachsen weit besser aufgestellt. Doch das ist lange her, inzwischen hat sich das Bild umgekehrt – Südniedersachsen ist nach wie vor eine schrumpfende Region, während die Entwicklung im Emsland und teilweise auch im benachbarten Ostfriesland steil bergauf ging. Warum das so ist, versuchen die beiden Regionalforscher Arno Brandt (Lüneburg) und Jörg Lahner (Göttingen) in einem Aufsatz für die neueste Ausgabe der Zeitschrift „Neues Archiv für Niedersachsen“ zu ergründen. Sie wählen dabei den Begriff „Pfadabhängigkeit“, womit eine Vorprägung durch vorher festgelegte Wege gemeint ist.
Die beiden Autoren legen dar, dass Entscheidungsträger in einigen Regionen in eine ausweglose Lage kommen können, in denen sie nicht mehr auf Zustimmung für neue und ungewöhnliche Wege vertrauen können. Das treffe etwa auf die Entwicklung im Ruhrgebiet in der Nachkriegszeit zu. Es habe keine Branchenvielfalt gegeben, die Qualifikationen der Beschäftigten seien eng auf wenige Berufe ausgerichtet gewesen, die Institutionen und Leitbilder ebenso. Das festgefügte Wertschöpfungssystem habe zu Denkblockaden geführt und eine Neuorientierung enorm erschwert – sogenannte „Lock-in-Effekte“ seien die Folge gewesen. Das habe sich sowohl in den strategischen Festlegungen der Unternehmen gezeigt wie auch in Wahrnehmungs- und Deutungsmustern in der Gesellschaft, aber auch in den Zielen der Politiker.
Brandt und Lahner sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Selbstblockade“. Dieses harte Urteil beziehen sie nun nicht auf den südniedersächsischen Raum, wohl aber nennen sie einige dortige Entwicklungen, die einer Erneuerung im Wege gestanden haben. Seit 1980 habe Südniedersachsen enorm an Bevölkerung verloren – und zwar im Schnitt um zehn Prozent, der Landkreis Goslar sogar um 20 Prozent. Die „Ems-Achse“, also das Emsland, Ostfriesland und die Grafschaft Bentheim, hätten in dieser Zeit Bevölkerungsgewinne um 20 Prozent erzielen können. Die Beschäftigtenzahlen der „Ems-Achse“ hätten ebenfalls um 20 Prozent zugenommen, während die in Südniedersachsen stagnierten.
In den fünfziger Jahren habe der Harz mit seiner Bergbauindustrie zu den wirtschaftsstärkeren Regionen Niedersachsens gezählt. Ein schleichender Verlust an industriellen Arbeitsplätzen habe danach eingesetzt, auch in der Holz- und Glasindustrie, die mit dem Bergbau verflochten waren. Eine strategisch ausgerichtete Industriepolitik, die gezielt externe Impulse aufgreift, habe damals gefehlt. Erschöpfte Erzvorkommen und drastisch sinkende Weltmarktpreise für Metalle hätten dann auch dem Bergbau stark zugesetzt – die Folge sei eine Abwanderung junger Menschen gewesen. Die Zonenrandförderung bis zu den neunziger Jahren habe die Probleme noch verschärft, denn nennenswerte innovationsstarke Ansiedlungen seien ausgeblieben, vielmehr habe es „verlängerte Werkbänke“ für Fabriken gegeben, die in anderen Regionen ansässig waren. Nach 1990 habe dann der Aufbau Ost dazu geführt, dass ein Ost-West-Fördergefälle entstand. Erst sehr spät, nämlich seit 2004, hätten gezielte Versuche einer Stärkung Südniedersachsens eingesetzt – kombiniert mit dem Versuch, die exzellente Hochschullandschaft (etwa Göttingen, Braunschweig und Clausthal) in engeren Kontakt mit der regionalen Wirtschaft zu bringen.
Die Entwicklung im Emsland sei anders verlaufen. 1950 habe der Bund den „Emslandplan“ beschlossen – ein Projekt zur gezielten Stärkung einer schwachen Wirtschaftsregion. Seit Mitte der sechziger Jahre hätten die Emsländer dann infrastrukturelle Großvorhaben angeschoben, die damals in anderen Regionen Deutschlands kaum noch durchsetzbar erschienen – ein Atomkraftwerk und eine Brennelementefabrik, ein Elektrostahlwerk, ein Acrylfaserwerk und ein Bleichemiewerk. Erdöl- und -gas wurden gefördert, es gab eine Transrapid- und eine Mercedes-Teststrecke. Die Region habe als „ländlicher Auffangraum“ gewirkt – auch deshalb, weil die politischen Akteure in dem großen und leistungsfähigen Kreis Emsland eng mit der regionalen Wirtschaft kooperiert und wichtige Vorhaben – etwa den Autobahnbau – vorangetrieben haben. Im benachbarten Ostfriesland habe die Entscheidung, in Emden ein weiteres VW-Werk zu bauen, auch zur Kräftigung der Region beigetragen.