29. Aug. 2022 · Wirtschaft

Strompreis-Anstieg bringt Unternehmen und Kommunen zunehmend in Bedrängnis

Noch nie war Stromsparen so wichtig wie heute. Die rasant gestiegenen Energiepreise fordern Privatleute, Kommunen und Unternehmen heraus. | Foto: GettyImages/vchal

Es ist gerade mal ein halbes Jahr her, da forderte Niedersachsen in einer Bundesratsinitiative noch einen Industriestrompreis „von möglichst 4 Cent“. Dann kam der russische Angriff auf die Ukraine - und die Preise entwickelten sich in die völlig andere Richtung. Anstelle von 4 bis 5 Cent pro Kilowattstunde müssen die niedersächsischen Unternehmen bei Neuabschlüssen inzwischen Strompreise von 60 bis 74 Cent bezahlen, berichtet Volker Müller, Hauptgeschäftsführer der Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN). „Das ist kurzerhand eine Ver-15-fachung“, betont Müller und fordert die Politik dringend zum Handeln auf. „Bisher wird die Inflation vor allem durch die Energiepreise getrieben. Wenn die Wirtschaft diese Kosten auf die Produkte umlegt, gibt es Inflation auf breiter Front. Wir müssen deswegen jetzt aktiv werden, alles andere wäre unverantwortlich. Denn wenn es zu Beschäftigungsabbau kommt und die Einkommen wegfallen, dann haben wir ein richtiges Problem“, warnt der Arbeitgeber-Vertreter.

Unternehmen geht wegen Energiepreisen die Luft aus

Wie dramatisch die Lage ist, macht der UVN-Hauptgeschäftsführer an einem Beispiel aus dem großflächigen Einzelhandel deutlich: Ein ihm bekanntes Unternehmen habe mit seinen 300 Mitarbeitern zuletzt einen Jahresumsatz von rund 70 bis 80 Millionen Euro und einen Gewinn vor Steuern von etwa 500.000 Euro (Ebitda) erwirtschaftet. Nun hätten sich die jährlichen Energiekosten jedoch von 0,3 auf 3,6 Millionen Euro verteuert, sodass der Betrieb tief in die roten Zahlen rutschen wird. Und das ist kein Einzelfall. „Ich kriege jeden Tag zig Anrufe aus allen Branchen“, berichtet Müller. Schon längst stehe nicht mehr nur den energieintensiven Betrieben aus der Glas- oder Stahlindustrie das Wasser bis zum Hals. „Das sind Kosten, die keine Wettbewerbsfähigkeit mehr ermöglichen. Es ist 5 nach 12. Wir müssen bis spätestens Herbst eine Lösung dafür haben, wie sich der Strompreis zurückbildet“, sagt Müller und befürchtet vor allem in der energieintensiven Industrie eine Abwanderung der Produktion ins außereuropäische Ausland. „Das geht ruck-zuck und dann sind die internationalen Konzerne aus Deutschland weg.“

Den von Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) vorgeschlagenen Strom- und Gaspreisdeckel will der UVN-Chef jedoch erst „als letztes Mittel“ in Betracht ziehen. Müller schlägt stattdessen vor, die Gasverstromung zu beenden, um die Preise an der Strombörse zu drücken. „Es besteht ja kein rein sachlicher Grund dafür, dass die Strompreise so hoch sind. Strom hätten wir eigentlich genug“, sagt Müller. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) habe allerdings zu einseitig auf die Versorgungssicherheit geschaut, ohne die Marktmechanismen zu beachten. Die teuerste Form der Energieerzeugung bestimmt den Strompreis – und das ist die Gasverstromung, so beurteilen es Unternehmervertreter.

Weil bringt "Aussetzen des Stromhandels" ins Spiel

Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sieht das ganz ähnlich. „Die Regeln der Strombörse passen nicht für die aktuelle Lage. Nicht die günstigsten Anbieter bestimmen den Preis, sondern die höchsten akzeptierten Angebote“, kritisiert Weil und rückt damit vom Merit-Order-Prinzip ab. Er ärgert sich über „riesige Spekulationsgewinne“, die derzeit auch von den Produzenten von erneuerbaren Energien eingefahren werden, ohne dass diese eine zusätzliche Leistung erbringen würden. Der SPD-Politiker zieht deswegen auch „ein Aussetzen des Stromhandels und eine vorübergehende staatliche Preisregulierung in Betracht“. Angesichts der vielen ungehörten Vorschläge aus Niedersachsen zur Lösung der Energiekrise stellt sich jedoch die Frage, ob diese Idee in der SPD-geführten Ampelkoalition überhaupt berücksichtigt wird. Als weiteres Mittel zur Stabilisierung der Strompreise fordert Volker Müller den Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Atomkraftwerke. „Solange es noch die Gasverstromung gibt, wäre das Abschalten ein verheerendes Signal“, sagt der UVN-Hauptgeschäftsführer und hält auch einen Streckbetrieb für ungenügend: „Das wäre reine Augenwischerei und hätte höchstens einen Minieffekt.“

Das aktuelle Strommarktdesign ist ein Problem, weil es dazu führt, dass die teuerste Energie die Kosten explodieren lässt.

Christian Dürr, FDP-Bundesfraktionsvorsitzender

„Das aktuelle Strommarktdesign ist ein Problem, weil es dazu führt, dass die teuerste Energie die Kosten explodieren lässt“, sagt auch der FDP-Bundesfraktionsvorsitzende Christian Dürr im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Das Merit-Order-Prinzip hat für ihn „eher den Effekt einer Wette“ und sei auch vor allem mit der Zielsetzung eingeführt worden, die erneuerbaren Energien zu pushen. „Der Markt muss wieder näher an die Realität rücken und die Stromerzeugungskosten richtig darstellen“, fordert Dürr. Der FDP-Politiker sagt aber auch: „Diese Strompreise können wir nicht zulassen.“

„Die Energiemärkte bestehen zurzeit den Stresstest nicht. Das fällt unter die Regierungsverantwortung der Union“, sagt FDP-Fraktionschef Christian Dürr. | Foto: Tomas Lada

Um die Preise zu senken, plädiert er für einen raschen Ausbau der Stromerzeugung. „Wir tun was bei Kohle, wir müssen aber auch etwas bei der Kernenergie tun“, sagt Dürr und ergänzt: „Wenn man dem Markt signalisiert, dass die Atomkraftwerke am Markt bleiben, wird das einen preisdämpfenden Effekt von 16 Milliarden Euro haben – wahrscheinlich sogar noch mehr.“ Eine Laufzeitverlängerung sollte zumindest die nächsten zwei Winter umfassen, betont Dürr. Mittel- bis langfristig müsse aber allein der Ausbau der erneuerbaren Energien die Lösung sein.

Kommunen gehen bei Strom-Ausschreibungen leer aus

Die Lage auf dem Energiemarkt bringt auch die Kommunen in Bedrängnis. Bei den öffentlichen Ausschreibungen für die Strom- und Gasversorgung gehen die Preise steil nach oben. „Dass die Strompreise so hoch sind, ist keine Überraschung. Durch die Ukraine-Krise hat sich die Lage aber nochmal verschärft“, berichtet Matthias Hoppe, der bei der Kommunalen Wirtschafts- und Leistungsgesellschaft (KWL) für den Bereich „Energie und Kommunales“ zuständig ist. Die KWL ist ein Tochterunternehmen des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebunds und kümmert sich im Auftrag der Kommunen um die Ausschreibungen für Versicherungen, Feuerwehrwesen, Telefonie sowie Strom und Gas.

„Wir haben in Niedersachsen jedes Jahr etwa 300 Kunden, für die wir Strom und Erdgas ausschreiben“, erläutert Hoppe und zeichnet die Strompreisentwicklung wie folgt nach: Anfang 2021 habe der Strompreis (Arbeitspreis) pro Kilowattstunde noch bei etwa 5,5 Cent gelegen. Im Sommer 2021 sei er bereits auf 7 bis 8 Cent geklettert und habe nach den Sommerferien bei 12 Cent gelegen. Bei den Ausschreibungen im Herbst hätten die Anbieter bereits 20 Cent pro Kilowattstunde gefordert und zu Weihnachten 2021 war bereits die 30-Cent-Marke erreicht. „Dieses Jahr haben wir bei unseren Ausschreibungen auch schon 40 Cent und mehr gesehen“, sagt Hoppe.  „Auch hat sich der Arbeitspreis für Erdgas seit Juli 2021 von 2,5 Cent auf aktuell mehr als 30 Cent erhöht“, erklärt Hoppe.

Neben dem Kostenanstieg hat der KWL-Experte aber auch ein neues Phänomen beobachtet: „Wir hatten einige Ausschreibungen und Lose von Ausschreibungen ohne Angebote“, berichtet Hoppe. Üblicherweise gilt eine Ausschreibung für zwei Jahre und hat einen maximalen Lieferumfang von 50 Gigawattstunden (GWh). Das ist eigentlich eine überschaubare Menge, denn 50 GWh entsprechen etwa der Jahresleistung von fünf modernen Windrädern. Doch weil die Stromanbieter derzeit teilweise selbst keine langfristigen Zusagen von den Vorversorgern erhalten, verhalten sie sich zögerlich. Zunächst hat das noch keine Konsequenzen. In den Vergabeverfahren, in denen es keine Angebote gab, wird die KWL nun die zweite Vergaberunde einleiten. Sollte es auch hier keine Interessenten geben, müsste ein Verhandlungsverfahren starten. „Das wäre für uns eine Premiere“, sagt Hoppe. Bei Verhandlungsverfahren würde der Preis mit geeigneten und interessierten Unternehmen direkt verhandelt werden. Ein Ergebnis kann Hoppe allerdings schon jetzt vorwegnehmen: „Eine Grund- und Ersatzversorgung gibt es auf jeden Fall. Niemand wird ohne Energie dastehen.“

Warum die Strombörse bei der Preisbildung versagt

Als Haupttreiber der Strompreise haben Fachleute schon seit Längerem die Rekord-Preise für Gas ausgemacht, das nach wie vor zu den wichtigsten Quellen der Stromerzeugung in Deutschland gehört. 2021 wurden immer noch 10,5 Prozent des Stroms mithilfe von Erdgas produziert, was sich auch im Jahr 2022 nicht wesentlich geändert hat. In der Folge schießen nach dem sprunghaften Anstieg der Brennstoffpreise auch die Strompreise durch die Decke. Nach dem aktuellen Marktmodell „Merit-Order“ (englisch für Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit) setzen sich die Strompreise an der European Energy Exchange (EEX) in Leipzig nämlich wie folgt zusammen: Bei den täglich stattfindenden Auktionen werden die Stromerzeuger entsprechend ihrer Grenzkosten – das sind die Kosten, die durch zusätzliche Produktion anfallen – aufsteigend geordnet.

Grafik: CIRE/TH Köln

„Ganz links, also am günstigsten, sind die Stromerzeuger ohne oder mit geringen Brennstoffkosten wie die erneuerbaren Energien, also Solar- und Windparks, dann folgen Atomkraft, Braunkohle, Steinkohle und Gas“, erläutert Prof. Ingo Stadler vom Cologne Institute for Renewable Energy (CIRE). „Der Börsenpreis wird nun durch das Kraftwerk mit den höchsten Produktionskosten definiert, das benötigt wird, um den aktuellen Strombedarf zu decken. Alle anderen Kraftwerke erhalten dann für den erzeugten Strom den gleichen Preis, auch wenn sie eigentlich günstiger produzieren.“ Stadler erklärt den Anstieg der Strombörsenpreise auch mit dem Wegfall einiger Kernkraftwerke, durch den die teureren Gaskraftwerke in der Merit-Order weiter nach vorne gerückt sind. Zudem hätten die Preise für CO2-Zertifikate angezogen. Ein Rückgang der Strompreise werde sich vor allem dann einstellen, wenn weniger teure Kraftwerke hinzugeschaltet werden müssen. Der Kölner Professor empfiehlt hier vor allem Strom- und Windparks. Grundsätzlich würde dabei aber jedes Kraftwerk weiterhelfen, das Strom billiger als ein Gaskraftwerk herstellen kann.

Dieser Artikel erschien am 30.8.2022 in Ausgabe #149.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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