
Das strikte Nein der Bundesregierung zum Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Atomkraftwerke gerät offenbar ins Wanken. Dass das Bundeswirtschaftsministerium am Sonntag einen neuen Stresstest für die Stromversorgung im kommenden Winter angekündigt hat, gilt vielen als Zeichen dafür, dass die Ampelkoalition doch noch einen Streckbetrieb der Kernkraftwerke in Betracht ziehen könnte. Schließlich hatte erst vor wenigen Tagen eine Sonderanalyse im Auftrag des Bundesministeriums ziemlich eindeutig ergeben, dass auch unter verschärften Bedingungen „ein sicherer Betrieb des Elektrizitätsversorgungsnetzes im Winter 2022/23 gewährleistet ist“. In Lingen, wo sich mit dem Atomkraftwerk Emsland das letzte norddeutsche Kernkraftwerk in Betrieb befindet, verfolgt man die Debatte mit Interesse, aber auch mit einer gewissen Gleichgültigkeit. Einen Weiterbetrieb der Anlage über 2022 hinaus kann sich hier kaum jemand vorstellen – nicht einmal der Betreiber RWE. Und Atomkraftgegner drohen bereits mit einer Klage.
Im Rathaus von Lingen wartet man derzeit gespannt auf den zweiten Stresstest. „Erst, wenn diese Ergebnisse vorliegen, kann fachlich entschieden werden, inwiefern eine Verlängerung energiepolitisch und auch technisch – zum Beispiel durch einen Streckbetrieb – möglich wäre“, sagt Oberbürgermeister Dieter Krone. Der parteilose Verwaltungschef, der die Geschicke der 56.000-Einwohner-Stadt seit 2010 bestimmt, gilt in der Atomkraft-Debatte als Mann des Ausgleichs. Zwar hat sich Krone immer klar für den Erhalt der Brennelementefabrik AFN in Lingen positioniert. Im April hielt der Oberbürgermeister aber auch eine Laudatio auf den russischen Umweltaktivisten und Atomkraftgegner Vladimir Slivyak, nachdem sich dieser ins Goldene Buch der Stadt eingetragen hatte.
„Die Diskussion um den Weiterbetrieb wird in Lingen auch nicht emotionaler geführt als in anderen Regionen auch. Wir haben immer eine große Akzeptanz für das Thema Atomkraft gehabt“, sagt Christian Fühner, Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des CDU-Kreisverbands Lingen. Den teilweise scharfen Protest gegen das Atomkraftwerk in Lingen sieht Fühner kaum in der Region verwurzelt, er komme eher von außerhalb. Das Emsland habe mit der Kernkraft auch schon weitgehend abgeschlossen. „Wasserstoff ist für uns das große Zukunftsthema“, sagt der CDU-Kreisvorsitzende und verweist ebenso wie Krone auf den Baustart der neuen Mega-Elektrolyseanlage von RWE und Kawasaki, die vom Land Niedersachsen mit acht Millionen Euro gefördert wird und in den nächsten Jahren auf über zwei Gigawatt ausgebaut werden soll. „In Lingen setzt man bereits seit einigen Jahren auf die Produktion von grünem Wasserstoff und treibt die Transformation zum Wasserstoffstandort und damit den Ausbau nachhaltiger Energien massiv voran“, so der Lingener Oberbürgermeister. Anders als an anderen Atomkraftwerk-Standorten sei die Stilllegung des Kernkraftwerks für die Stadt und das Umland deswegen auch wirtschaftlich zu verschmerzen. Fühner: „Wir fühlen uns nach wie vor als wirtschaftlich starke Region.“

Der Kraftwerksbetreiber wirkt in der Debatte sehr passiv. „RWE schätzt die Hürden für einen sinnvollen verlängerten Betrieb als hoch ein“, teilt RWE-Sprecher Jan Peter Cirkel auf Rundblick-Anfrage mit. Der Konzern hält sich in der Laufzeit-Diskussion lieber im Hintergrund und lehnt auch einen Standortbesuch ab. „Unser Kraftwerk Emsland in Lingen ist auf den Auslaufbetrieb zum Ende des Jahres ausgerichtet, entsprechend haben wir auch den Brennstoffeinsatz auf dieses Datum hin optimiert. Konkret wird die Anlage deshalb schon in den Wochen vor der Stilllegung nicht mehr ihre volle Leistung bereitstellen können“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Außerdem habe RWE die Personalplanung am Standort bereits seit 2011 auf die Stilllegung zum Ende dieses Jahres ausgerichtet. Und schließlich verweist der Konzern auf die unklare Genehmigungslage sowie auf die Position der Bundesregierung, für die eine Laufzeitverlängerung aktuell keine Option sei.
Für einen möglichen Weiterbetrieb des Kraftwerks Lingen gibt es grundsätzlich zwei Szenarien: eine reguläre Laufzeitverlängerung oder den sogenannten Streckbetrieb. „Durch kontinuierliche Absenkung der Kühlmitteltemperatur und der Leistung oder durch Abschaltung der Atomkraftwerke im Sommer 2022 könnte der Betrieb der Atomkraftwerke mit den aktuell in den Kraftwerken befindlichen Brennelementen für eine gewisse Zeit (bis zu circa 80 Tagen) fortgesetzt werden“, erklärt ein Sprecher des Bundesumweltministeriums. Auch für den Streckbetrieb sei ein Gesetz zur Aufhebung der Laufzeitbegrenzung erforderlich. „Das Gesetz müsste ebenfalls bestimmen, dass die rechtsverbindliche Erklärung des Betreibers, die Anlage zum 31.12.2022 endgültig abzuschalten, aufgehoben wird“, so der Sprecher.
Diese Erklärung hätten die Atomkraftwerkbetreiber abgegeben, um die Kraftwerke 13 Jahre lang ohne die sogenannte Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) betreiben zu können. Eine weitere Verlängerung ohne PSÜ könne nach europäischem Recht problematisch werden, weil sie laut EU-Sicherheitsrichtlinie alle zehn Jahre vorgeschrieben ist. Und der Umweltministeriumssprecher gibt zu bedenken: „Eine PSÜ nach allen Anforderungen dauert mehrere Jahre. Sie müsste auch vor einer kurzen Laufzeitverlängerung durchgeführt werden.“
Hier setzt auch die Kritik der Anti-Atomkraftbewegung „Ausgestrahlt“ und der Deutschen Umwelthilfe (DUH) an, die gestern eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlichten. „Die veralteten Anlagen sind ein täglich größer werdendes Sicherheitsrisiko und deren Weiterbetrieb bedroht das Grundrecht auf Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Dies darf nicht aus einer Laune heraus und ohne energiepolitische Not von CDU, CSU und FDP gefährdet werden“, ärgert sich DUH-Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner und wirft den Befürwortern einer Laufzeitverlängerung vor, dass sie „russisches Roulette mit der Sicherheit der Menschen“ spielen.
Die niedersächsische BUND-Chefin Susanne Gerstner nennt die Debatte „politisch unverantwortlich und nicht nachvollziehbar“. Die Sicherheitsrisiken und Kosten einer Laufzeitverlängerung stünden in keinem Verhältnis zu den dadurch gewonnenen, vergleichsweise geringen Strom-Kapazitäten von etwa sechs Prozent des deutschen Strommix. Gerstner äußert auch erhebliche Sicherheitsbedenken. „So wurde ein kaputtes Rohr bei der Revision im Atomkraftwerk Lingen nicht erkannt und erst später durch Zufall entdeckt. Das zeigt uns, dass beim Sicherheitskonzept des Atomkraftwerks gravierende Mängel vorliegen und es sofort vom Netz genommen werden muss“, sagt die BUND-Landesvorsitzende. DUH-Chef Müller-Kraenner kündigt auch deswegen an: „Sollte der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke über den 31. Dezember 2022 hinaus kommen, werden wir dies notfalls per Gericht stoppen.“
Für eine dauerhafte Laufzeitverlängerung benötigt das Atomkraftwerk Emsland neben einer Genehmigung auch neue Brennstäbe. „Um den vorhandenen Brennstoff optimal auszunutzen, haben wir bei dieser letzten Revision keine neuen Brennelemente eingesetzt, sondern die vorhandenen Brennelemente umgesetzt“, berichtete Kraftwerksleiter Wolfang Kahlert nach Wartungsarbeiten im Mai. Laut Umweltministerium und RWE ist eine kurzfristige Beschaffung nicht möglich. „Neue Brennelemente müssen für jede Anlage individuell hergestellt werden. Die Beschaffung von neuen Brennelementen dauert nach unseren Erfahrungen in der Regel 12 bis 24 Monate“, erläutert der Energiekonzern. Damit bestätigt RWE letztlich den gemeinsamen Prüfvermerk der Grünen-Bundesminister Steffi Lemke (Umwelt) und Robert Habeck (Wirtschaft) vom März. Dort hieß es: „Eine Verlängerung der Laufzeiten der noch in Betrieb befindlichen drei Atomkraftwerke würde im Winter 2022/2023 keine zusätzlichen Strommengen bringen (Streckbetrieb), sondern frühestens ab Herbst 2023 nach erneuter Befüllung mit neu hergestellten Brennstäben.“
Theoretisch wäre es möglich, die drei bereits zum 31. Dezember 2021 stillgelegten Kernkraftwerke wieder hochzufahren. Doch eine Rückkehr der Kraftwerke Brokdorf, Gundremmingen und Grohnde ans Netz ist äußerst unwahrscheinlich. Aus Sicht der zuständigen Bundesministerien stehe das schon aufgrund der genehmigungsrechtlichen Situation außer Frage. Hinzu kommt, dass die Kraftwerkbetreiber schon längst den Rückbau angeschoben haben. Die Eon-Tochter Preussenelektra, der neben dem noch am Netz befindlichen Atomkraftwerk Isar 2 auch die stillgelegten Kernkraftwerke Brokdorf und Grohnde gehören, versteht sich schon gar nicht mehr als Energieunternehmen. Firmenchef Guido Knott sprach vor wenigen Wochen sogar von einem „Wandel der Preussenelektra vom Stromproduzenten zum reinen Rückbauunternehmen“.

Anders als in Grundremmingen, wo die bayrische Landesregierung sogar durch ein TÜV-Süd-Gutachten die Möglichkeit des Weiterbetriebs nachweisen ließ, gibt es in Niedersachsen auch keine Befürworter für eine Wiederinbetriebnahme von Grohnde. „Hier im Landkreis Hameln-Pyrmont gibt es keine politische Diskussion um eine mögliche Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerks Grohnde“, sagt Landkreissprecherin Sandra Lummitsch. Dafür würden sowohl Genehmigung als auch Brennstäbe fehlen. Das von Landrat Dirk Adomat (SPD) geforderte Förderprogramm für vom Atomausstieg wirtschaftlich betroffene Regionen bleibt aber ein Thema. Nach der Sommerpause und einem Treffen mit anderen Kommunen, denen es ähnlich wie den Hamelnern geht, will Adomat die Forderungen an den Bund konkretisieren.