Es gibt starke Anzeichen, dass der Staatsgerichtshof als höchstes Gericht des Landes im Dezember auf eine gründliche Veränderung der 87 Landtagswahlkreise drängen wird. Das Thema wurde am gestrigen Dienstag in einer öffentlichen Verhandlung in Bückeburg erörtert, Anlass war ein Wahleinspruch des früheren Gemeindedirektors aus Bösel (Kreis Cloppenburg), Hermann Gerdes. Gerdes hatte die Landtagswahl angefochten, da das gegenwärtige niedersächsische Landtagswahlrecht den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nicht mehr gewährleiste. Im bevölkerungsstarken Westen des Landes hätten die Wahlkreise häufig überdurchschnittlich viele Wahlberechtigte, im bevölkerungsschwachen Osten und Süden hingegen zu wenige. Da Niedersachsen sehr stark von den Direktmandaten geprägt sei, 87 der 146 Abgeordneten sind auf diesem Weg in den Landtag gekommen, habe der Osten und Süden ein Übergewicht im Parlament.

Landeswahlleiterin Ulrike Sachs. | Foto: Wallbaum

Nun spricht zwar wenig dafür, dass Gerdes‘ Beschwerde die Ungültigkeit der Landtagswahl vom 9. Oktober 2022 zur Folge haben wird. So weit wird der Staatsgerichtshof vermutlich nicht gehen. Aus den beharrlichen Nachfragen von Gerichtspräsident Wilhelm Mestwerdt und den Richtern Thomas Veen, Hannelore Kaiser und Prof. Hermann Butzer lässt sich aber ablesen, dass diese die von Gerdes geäußerte Unzufriedenheit mit dem Wahlsystem teilen. Da Gerdes selbst nach den rechtlichen Vorgaben seinen Einspruch nicht selbst begründen durfte und sich auf eigene Kosten einen Anwalt hätte nehmen müssen, beschränkte sich die Verhandlung auf die Befragung einer Sachverständigen, der Landeswahlleiterin Ulrike Sachs. Sie wurde mehrfach von den Richtern gefragt, warum die Landesregierung nicht vorausschauender und rechtzeitiger die Bevölkerungsentwicklung auf den Wahlkreiszuschnitt übertrage. Sachs entgegnete, sie erfülle ihren gesetzlichen Auftrag und unterbreite Reformvorschläge dort, wo es vorgeschrieben sei. „Was dann passiert, ist Sache des Landtags. Er ist bisher nicht in allen Punkten meinen Anregungen gefolgt.“

Mestwerdt und Veen wunderten sich, dass in Niedersachsen nach der Landtagswahl 2022 insgesamt zwölf der 87 Wahlkreise eine Abweichung der Wahlberechtigten von mehr als 20 Prozent nach oben oder unten vom Durchschnitt haben. Die Landeswahlleiterin bestätigte auf Nachfrage, sie müsse dem Landtag nur Reformvorschläge unterbreiten, wenn die Abweichung mehr als 25 Prozent betrage. Prof. Butzer wies darauf hin, dass das doch eine sehr große Toleranzbreite sei, im Bundeswahlrecht solle man von 2026 an schon bei zehn Prozent tätig werden, ab 15 Prozent müsse man es dann sogar. Demgegenüber sei das niedersächsische Landtagswahlrecht überaus großzügig – obwohl der Handlungsbedarf hier doch eigentlich größer sein müsse. „Die Bedeutung der Erststimmen für den Ausgang der Wahl ist hier viel größer als im Bundestag, deshalb kommt es hier auch besonders auf den gleichen Erfolgswert jeder Erststimme an“, betonte Mestwerdt.

„Es geht doch um die Frage, ob dieser Verwaltungsaufwand höher wiegt als die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl.“

In der Befragung von Sachs legte Richter Veen den Finger in die Wunde. Er wollte wissen, warum etwa in Aurich viel zu lange eine enorme Abweichung toleriert worden sei, die man mit einfachen Verschiebungen rasch ausgleichen könne. Das gelte auch für den Raum Hameln-Pyrmont und seinen unmittelbaren Nachbarwahlkreisen – oder auch für den Raum Göttingen. Sachs erklärte jeweils, mal handele es sich „um lange Traditionen“, mal sei der Landtag ihren Empfehlungen nicht gefolgt, dann wieder seien es „historische und kulturelle Gründe“, die Anpassungen erschwerten. Auch auf die lokalen Parteistrukturen nehme man Rücksicht, sagte Sachs in einem Nebensatz. Der Hinweis auf einen erhöhten Verwaltungsaufwand, wenn Gemeinden vom einen in einen anderen Wahlkreis wechselten, wurde von Prof. Butzer zurückgewiesen: „Es geht doch um die Frage, ob dieser Verwaltungsaufwand höher wiegt als die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl.“

Abschließend sollte Sachs die Frage von Gerichtspräsident Mestwerdt beantworten, wann denn eine mögliche Generalreform der Wahlkreise vom Innenministerium umgesetzt werden könne. „Erst zur Landtagswahl 2032“, meinte die Landeswahlleiterin, worauf Mestwerdt reagierte: „Meinen Sie das ernst?“ Sachs sagte, für die Vorbereitungen zur Landtagswahl 2027 werde es schon eng, ab März 2026 könnten die Kandidaten aufgestellt werden, und vorher müssten Gesetze geändert werden. Butzer meinte daraufhin vielsagend: „Wenn der Landtag im Dezember ein Weihnachtsgeschenk bekommen sollte, sollte er es doch wohl binnen 15 Monate umsetzen können.“ Bisher ist vorgesehen, dass der Staatsgerichtshof seine Entscheidung am 9. Dezember 2024 verkündet.