SPD-Dialektik: Da Schröder nicht geehrt werden soll, wird er jetzt besonders geehrt
Das sind die Tücken der Geschichte: Wenn runde Geburtstage oder Ereignisse nahen, müssen sich die Politiker und Parteien dazu verhalten. Oft kommen solche Anlässe eher zur Unzeit – oder sie bieten im Gegenteil sogar Gelegenheit, ein schiefes Bild wieder geradezurücken. Mit Spannung darf erwartet werden, wie sich die SPD in den nächsten Wochen verhält, wenn es wieder einmal um ihr unbequemes Mitglied Gerhard Schröder geht.
Er gehört seit nunmehr 60 Jahren der SPD an, und damit hat er Anspruch auf eine Ehrung. Kurz vor dem Ereignis hat er auch in der hannoverschen Lokalzeitung deutlich gemacht, wie wichtig, ja „prinzipiell“ für ihn sein SPD-Parteibuch ist. Im April nächsten Jahres wird Schröder zudem 80 Jahre alt, und noch zu seinem 75. vor fünf Jahren wurde für ihn ein großer Empfang im hannoverschen Rathaus gegeben. Damals war er ja auch noch einer der Ehrenbürger der Stadt, und Putins Angriffskrieg auf die Ukraine hatte noch nicht begonnen. Inzwischen ist Schröder kein Ehrenbürger mehr.
Wie soll man jetzt mit ihm umgehen? Zu Beginn des Sommers, als Schröders 60-jährige Parteimitgliedschaft ruchbar wurde, sagte die für die Ehrung zuständige SPD-Ortsvereinsvorsitzende Janina Schlüter: „Für mich agiert Gerhard Schröder als Privatperson und nicht als Genosse. Und ich zeichne keine Privatpersonen aus.“ Inzwischen klingen die Äußerungen deutlich milder und verhaltener, bei Anfragen wird auf die Mitgliederversammlung des Ortsvereins am 24. August verwiesen. Das hat seinen Grund.
Die Befürworter einer Ehrung für Schröder, zu denen die Vorsitzende Schlüter offensichtlich nicht gehört, sind in die Offensive gegangen – denn es haben sich Schröder-Verteidiger gemeldet. Das sind häufig ältere Genossen und auffällig nicht nur solche, die zu Schröders aktiven Zeiten zu den Anhängern seiner Politik zählten. So äußerten sich die früheren Landesminister Heidi Merk (Soziales) und Rolf Wernstedt (Kultus) in einer Weise zu der Ehrung, die man als verständnisvoll bezeichnen könnte. Gerade diese beiden hatten früher unter Schröders Ministerpräsidentschaft durchaus gelitten.
Dies sind Anzeichen dafür, dass sich die SPD-interne Debatte um Schröder inzwischen verschoben hat. Der Kernvorwurf an ihn, er distanziere sich nicht vom Kriegsverbrecher Wladimir Putin und halte weiter Kontakt zum russischen Herrscher, rückt in den Hintergrund. Andere Aspekte treten dafür stärker hervor.
Der Gipfelpunkt einer typisch hannoverschen sozialdemokratischen Dialektik rund um Gerhard Schröder ist in den vergangenen Tagen erreicht worden. Ausgangspunkt war ja, dass Teile des zuständigen Ortsvereins auf eine Versammlung, in der Schröder die Ehrennadel für seine 60 Jahre Parteizugehörigkeit überreicht werden sollte, ausdrücklich verzichten wollten. Die Ehrung „in einem kleineren Rahmen“ wurde als Kompromiss angestrebt. Dafür wurde nun der Vorschlag entwickelt, verbreitet über die Lokalzeitung, Alt-Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg solle beauftragt werden, die Ehrung sozusagen stellvertretend vorzunehmen. Das wurde garniert mit einem Zitat Schmalstiegs, dass er dies „sehr gern übernehmen würde“.
Das klingt kurios: Die Ehrung durch den Ortsvereinsvorstand in einer Versammlung wurde abgelehnt, dafür soll nun Schmalstieg, der in der hannoverschen SPD derzeit so etwas wie ein Übervater ist, einspringen. Wieso ein solcher Weg glaubhaft als „kleinerer Rahmen“ verstanden werden soll, wissen wohl nur die Parteistrategen der Sozialdemokraten selbst. Man könnte diese Schmalstieg-Variante auch als Aufwertung verstehen – oder als ersten Schritt zur Rehabilitation von Schröder.
„Gerhard Schröder ist mit seinen Äußerungen zum Krieg in der Ukraine innerhalb der SPD völlig isoliert.“
Tatsächlich ist in der SPD derzeit einiges in Bewegung. Parteichefin Saskia Esken sagte noch vor einem Jahr, der Altkanzler solle als solcher nicht mehr bezeichnet werden, für sie agiere Schröder lediglich noch als „Geschäftsmann“. Noch im März, als das Bezirks-Parteigericht der SPD mehrere Anträge auf einen Parteiausschluss Schröders abgewiesen hatte, betonte der SPD-Landesvorsitzende und Ministerpräsident Stephan Weil in einer Stellungnahme: „Gerhard Schröder ist mit seinen Äußerungen zum Krieg in der Ukraine innerhalb der SPD völlig isoliert.“ Schon zu diesem Zeitpunkt konnte man Zweifel an dieser Aussage haben, denn just das Urteil des Bezirks-Parteigerichts hatte einen ganz anderen Duktus. Dort war betont worden, Belege für eine „ehrlose Handlung“ Schröders fehlten, es wurde Verständnis für seine Vermittlerhaltung im Russland-Ukraine-Konflikt geäußert, sogar eine angebliche „konfliktlösende Rolle“ erwähnt. Wer wollte, konnte dieses Schiedsgerichtsurteil lesen wie eine Verteidigungsschrift für Schröder. Das war im März.
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Die Entwicklung ging weiter: Ohne Schröder beim Namen zu nennen, verbreiteten etliche Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Friedensbewegte im April einen „Friedensappell“ mit der Aufforderung zum Waffenstillstand in der Ukraine – ein Schritt, der etwa bei Weil, bei Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und bei SPD-Fraktionschef Grant Hendrik Tonne keine Zustimmung auslöste, sondern eher Skepsis. Einer der Wortführer des Appells war der frühere SPD-Landeschef Wolfgang Jüttner, der ein enger Wegbegleiter Schröders ist – obwohl er stets unter ihm mehr gelitten hatte als viele andere. Mit diesem „Friedensappell“ war es aber gelungen, innerhalb der SPD eine Richtungsdebatte in der Außen- und Verteidigungspolitik zu entfachen.
Das führte zwar nicht überregional zu größeren Debatten oder gar öffentlichen Zweifeln an der Russland-Politik der Bundesregierung, hatte aber einen Effekt in der Niedersachsen-SPD: Wenn jetzt von Schröder und seiner Putin-Nähe die Rede war, ging es immer weniger um Schröders vergangene Gas-Geschäfte mit den Russen oder seine Verstrickungen mit dem Putin-System. Dieser Teil wurde immer stärker überlagert von einer anderen Grundsatzfrage: Soll die SPD sich jetzt nicht auf die Politik von Willy Brandt und Egon Bahr besinnen – und sich aktiv für einen baldigen Friedensschluss einsetzen? Die Frage, wer den Krieg angefangen hat und wessen Souveränität vom Aggressor verletzt wird – nämlich die der Ukraine –, wurde allerdings nur eher beiläufig behandelt.
Dieser Wandel der Diskussion, zumindest in der hannoverschen SPD, könnte jetzt auch eine Ehrung Schröders für seine 60-jährige Parteimitgliedschaft erleichtern. Dies wäre dann gewissermaßen eine Art Ersatzhandlung: Indem Schröder ausgezeichnet wird, versichern sich gerade altgediente Sozialdemokraten, dass die „Entspannungspolitik“ von Willy Brandt und Egon Bahr eben doch richtig gewesen sei. Dies fällt umso leichter, als ein anderer gängiger Vorwurf aus der SPD an Schröders Adresse, er habe nämlich mit der Hartz-Gesetzgebung sozialdemokratische Prinzipien verraten, jüngst kaum noch wiederholt wird. Seit „Hartz IV“ jetzt „Bürgergeld“ heißt und in den Bedingungen deutlich verändert wurde, sind sehr viele SPD-Mitglieder auch bereit, diesen alten Streit endlich zu den Akten zu legen.
Allerdings ist das aktuelle Aufbegehren der Freunde der Entspannungspolitik in der SPD, das häufig mit scharfer Kritik an der angeblich moralisierenden Außenpolitik von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kombiniert wird, durchaus nicht ohne Risiko. Wie die beiden Autoren Reinhard Bingener und Markus Wehner jüngst in ihrem Buch „Die Moskau-Connection“ herausgearbeitet haben, ist in der SPD die Entspannungspolitik längst zu einem Mythos geworden, zur Verklärung einer vergangenen Entwicklung, die verzerrt und einseitig weitergetragen wird. Es ist nicht lange her, dass der anerkannte Historiker Heinrich August Winkler vor allem die Rolle von Egon Bahr sehr kritisch untersucht hat. Bei allen Verdiensten, die der Entspannungspolitik der siebziger Jahre zugeschrieben werden könnten, gibt es laut Winkler auch sehr dunkle Schattenseiten.
So habe Egon Bahr sich auf die Kontakte der SPD zu den offiziellen kommunistischen Regierungen im Ostblock konzentriert – und etwa die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc als „Störfaktor“ eingeschätzt. Auch gegenüber anderen Freiheitsbewegungen im Osten, die dann zu friedlichen Revolutionen im Jahr 1989 führten, habe Bahr immer Distanz gehalten. Winkler bemängelte jüngst, dass Egon Bahr in Teilen der SPD „noch heute eine geradezu kultische Verehrung genießt“ – dabei habe er bei allen Verdiensten auch „gravierende Fehleinschätzungen“ gehabt. Gerade viele ältere Sozialdemokraten allerdings, die an ihrem Lebensabend mit Stolz auf ihre Arbeit zurückblicken wollen, brauchen dafür die Selbstversicherung, dass die Entspannungspolitik von Brandt und Bahr ganz und gar richtig gewesen sei.
Dieser Artikel erschien am 11.08.2023 in der Ausgabe #134.
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