Der Gully-Deckel-Anschlag auf der Autobahn 7 sorgt weiterhin für Wirbel im Landkreis Hildesheim. Die CDU-Kreistagsfraktion wirft der Kreisverwaltung „eklatante Versäumnisse“ vor und setzt Landrat Bernd Lynack (SPD) unter Druck. Die Christdemokraten teilen die Ansicht des Harsumer Gemeindebürgermeisters Marcel Litfin, der nach dem versuchten Mord von „Behördenversagen“ sprach. Grund für den Vorwurf: Der 50-jährige Mann aus Harsum, der mit einem Gully-Deckel-Wurf auf die Windschutzscheibe eines fahrenden Autos zwei Menschen schwer verletzt haben soll, war dem sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises wohlbekannt. Außerdem hatte Litfin kurz vor der Tat den Landkreis explizit vor dem Mann gewarnt. Die zuständige Aufsichtsbehörde bewertet den Fall allerdings anders. „Nach den dem Sozialministerium bislang vorliegenden Informationen hat der sozialpsychiatrische Dienst auf der Grundlage seiner Tatsachenfeststellungen entsprechend des ihm vom Gesetz vorgegebenen Rahmens gehandelt“, sagt Ministeriumssprecherin Anke Hage auf Rundblick-Anfrage. Auch die CDU-Vorschläge für eine Gesetzesverschärfung zur Gefahrenabwehr bei psychischen Erkrankungen weist das Ministerium zurück.
"Leider handelt es sich um einen Vorfall, der nach unserem Kenntnisstand nicht vorauszusehen war."
Der Hildesheimer CDU-Kreistagsfraktionsvorsitzende Friedhelm Prior regt an, das niedersächsische Psychiatriegesetz (NPsychKG) anzupassen. Bisher ist im Gesetz geregelt, dass der sozialpsychiatrische Dienst auch ohne Einwilligung der betreffenden Person ein Gutachten zur Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt einholen „kann“. Diese Sprachregelung ist Prior zu schwach. Er schlägt vor, aus der „Kann“-Vorschrift eine „Soll“-Vorschrift zu machen, um die sozialpsychiatrischen Dienste stärker als bisher bei der Beauftragung solcher Gutachten in die Pflicht zu nehmen. Außerdem möchte der CDU-Politiker, dass sich Niedersachsen das Psychiatriegesetz aus Nordrhein-Westfalen zum Vorbild nimmt. In beiden Gesetzen darf eine Zwangseinweisung nur dann geschehen, wenn „eine gegenwärtige erhebliche Gefahr“ durch den Betroffenen ausgeht. Laut dem Psychiatriegesetz aus NRW ist das der Fall, „wenn ein schadenstiftendes Ereignis unmittelbar bevorsteht oder sein Eintritt zwar unvorhersehbar, wegen besonderer Umstände jedoch jederzeit zu erwarten ist“. Nach Priors Einschätzung hätte diese Regelung im Fall des Mannes aus Harsum eine bessere Gefahrenabwehr ermöglicht. Schließlich sei von dem 50-Jährigen aufgrund dessen psychischer Störung ein „schadensstiftendes Ereignis“ zu erwarten gewesen, wie allein schon dessen Morddrohung gegen den Gemeindebürgermeister Litfin nahegelegt habe.
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Das Sozialministerium kommt jedoch zu einer anderen Einschätzung. „Das hier in Rede stehende Verhalten eines erkrankten Menschen ist in der Nachbetrachtung natürlich nur schwer auszuhalten. Den Betroffenen dieser Krisensituation gilt das vollste Mitgefühl unseres Ministeriums. Leider handelt es sich um einen Vorfall, der nach unserem Kenntnisstand nicht vorauszusehen war“, sagt das Ministerium und argumentiert: „Aufgrund der (nach den bisherigen Erkenntnissen) fehlenden Anhaltspunkte für eine gegenwärtige erhebliche Gefahr hätten die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen im vorliegenden Fall letztlich keine Auswirkungen auf das Handeln des sozialpsychiatrischen Dienstes haben können.“ Das Ministerium sieht auch keinen Unterschied in der Auslegung des Begriffs der „gegenwärtigen erheblichen Gefahr“ zwischen den Bundesländern, der in Niedersachsen im Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (NPOG) definiert wird. Demnach handelt es sich um ein „schädigendes Ereignis“, das „in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht“. „Die angesprochenen Regelungen in NRW sind nicht wortgleich, aber – vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Anforderungen – in Bezug auf die praktische Anwendung inhaltlich weitgehend vergleichbar“, so das Sozialministerium. Für CDU-Politiker Prior steht dagegen fest, dass die Schwelle in NRW für eine Unterbringung niedriger ist als in Niedersachsen.
„Wer sich in Harsum umhört, der ist schlicht erschüttert, was sich dort über viele Jahre unter den Augen der Landkreisverwaltung abspielen konnte.“
Die unterschiedliche Auslegung macht eines deutlich: Eine einfache und schnelle Lösung, um Vorfälle wie in Hildesheim zukünftig zu verhindern, wird es offenkundig nicht geben. Die Rahmenbedingungen für die Unterbringung von Menschen mit auffälligem Verhalten sind vom Bundesverfassungsgericht sehr eng definiert worden, was auch die Kritiker des Psychiatriegesetzes befürworten. Jeder Freiheitsentzug sei ein schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte und müsse gut begründet werden, bestätigt auch Prior. Die Debatte um eine Verbesserung des Psychiatriegesetzes dürfe damit aber nicht enden. Denn völlig unvorhersehbar – da sind sich im Heimatort des 50-jährigen Täters viele Menschen sicher – war eine Gewalttat durch den Mann nicht. „Wer sich in Harsum umhört, der ist schlicht erschüttert, was sich dort über viele Jahre unter den Augen der Landkreisverwaltung abspielen konnte“, kritisiert deswegen auch Dirk Bettels (CDU), Vorsitzender des Kreis-Sozialausschusses. Mit einem Antrag auf Akteneinsicht wollen Bettels und Prior jetzt dem Verdacht nachgehen, dass die Kreisverwaltung früher hätte einschreiten müssen. Als Verantwortlichen hat die CDU dabei den früheren Landtagsabgeordneten Lynack ausgemacht, obwohl der erst im September 2021 zum Landrat gewählt wurde. „Wir werden Landrat Lynack zwingen, zu dem Vorgang auszusagen“, erklärte Prior bereits Ende August in einer Pressemitteilung. Lynack zeigt sich davon unbeeindruckt. Bei der öffentlichen Sitzung des Sozialausschusses am kommenden Donnerstag will der Landrat aber persönlich Rede und Antwort stehen.