Bundestagspräsidentin Julia Klöckner von der CDU hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, als sie in einem Interview die Einmischung der Kirchen in die politischen Debatten kritisierte. Die Glaubensgemeinschaften würden „zu beliebig“, wenn sie sich zu tagespolitischen Fragen äußerten, statt sich auf Grundsatzfragen von Leben und Tod zu konzentrieren. Liegt sie damit richtig? Die Rundblick-Redaktion diskutiert darüber in einem Pro und Contra.

PRO: Wer meint, die Kirchen seien nur für bioethische Fragen zuständig, drängt sie aus dem wahren Leben raus. Zum Christentum gehört auch der Widerspruch – insbesondere gegen totalitäre Tendenzen, meint Niklas Kleinwächter.
Es verleitet zum Schmunzeln, wenn ausgerechnet Vertreter der Christlich Demokratischen Union zu viel Einmischung der Kirchen in die tagesaktuellen politischen Debatten beklagen. Natürlich ist die CDU keine dezidiert christliche Partei. Dies zu behaupten, wäre ahistorisch und entspräche auch nicht dem Selbstverständnis der CDU. Und doch gab es einst eine Zeit, in der die Union die Schützenhilfe von der Kanzel sehr gern in Anspruch genommen hat. Die Bundesrepublik sähe heute anders aus, wenn nicht Union und Kirchen auf einer Wellenlänge gelegen hätten. Nun stimmt diese Wellenlänge nicht mehr überein – deshalb soll die Frequenz abgedimmt werden?
Zugegeben, als Hannovers evangelischer Landesbischof Ralf Meister vor nicht allzu langer Zeit die Kirchen(gemeinden) mit Nichtregierungsorganisationen (NGO) verglichen hat, gefiel mir dieses Bild zu Anfang auch nicht. Es gibt doch einen entscheidenden Unterschied zwischen den Kirchen und meinetwegen Greenpeace. Die Formel von der „Bewahrung der Schöpfung“ kann zwar zu einer gemeinsamen Zielbestimmung führen – die Herleitung unterscheidet sich aber in einem doch wesentlichen Punkt. Nicht ohne Grund dürften deshalb die Mitgliederkarteien von Greenpeace und den Kirchen nicht deckungsgleich sein. Wenn nun angeführt wird, dass das politische Gebaren mancher Pastoren dazu führe, dass sich die Mitgliedschaften dieser beiden Organisatoren doch immer weiter angleichen würden, dann könnte ich zumindest die Mahnung unterschreiben: Denkt daran, dass ihr mehr seid als eine Umweltschutzorganisation.
Und dennoch ist an dem Bild der NGO nicht alles falsch. Blicken wir beispielsweise zurück in die Zeit der DDR. Damals haben sich viele Kirchengemeinden als Rückzugsorte verstanden, an denen Anderssein möglich war. Die Kirchen waren politisch, indem sie ein Versteck vor dem Totalzugriff der Politik geboten haben. Und sie waren damit nicht zuletzt der Ausgangspunkt für die Montagsdemonstrationen, die dem Regime gezeigt haben, dass es gewaltfreien Widerstand gibt. Diese Tradition dürfte viele, die heute in Kirche Verantwortung tragen, noch immer inspirieren, wenn sie jetzt über eine „neue“ Rolle der Kirchengemeinde nachdenken. Selbstkritisch muss sich die Kirche dabei allerdings immer wieder fragen, ob sie einen Ort für subversives Anderssein schafft – oder ob sie sich unbedarft von einer vorherrschenden politischen Meinung instrumentalisieren lässt. Auch das ist schließlich in der deutschen Geschichte schon passiert und muss stets Mahnung bleiben. Ein widerspruchsfreier Raum darf die Kirche deshalb niemals sein.
Worüber darf die Kirche nun aber reden und zu welchen Fragen sollte sie besser schweigen? Die Umwelt- und Klimapolitik ist als politisches Terrain, auf dem sich die Kirche inzwischen allzu gern tummelt, bereits genannt. Doch das inhaltliche Tableau, zu dem sich Kirchenvertreter politisch einlassen mögen, ist noch viel bunter. Soziales und Gesundheit, Arbeit und Wirtschaft, Flucht und Asyl, Krieg und Frieden, aber auch Genderfragen und Fragen der nuklearen Entsorgung findet man nicht nur im Programm des Evangelischen Kirchentags, sondern gelegentlich auch in einer Predigt am Sonntagmorgen. Das mag den einen oder anderen stören. Doch steht dieses Stören nicht gerade in der Tradition eines gewissen Wanderpredigers aus dem Nahen Osten, der die Aussätzigen berührte, den Tempel im Zorn verwüstete und die bestehende Ordnung in Zweifel zog?
„Zu den existenziellen Lebensfragen ist der 20. Deutsche Bundestag nahezu unerhört sprachlos geblieben.“
Und trotzdem wird gefordert, die Kirche solle sich lieber auf ihre „Kernthemen“ beschränken – ganz so, als sei nicht das gesamte Leben das Kernthema der Kirche und des Glaubens. Wer den Diskursraum, in dem sich Kirche bewegen darf, auf den Anfang und das Ende des Lebens beschränken möchte, grenzt die Kirche aus dem wahren Leben aus, drängt sie an die Ränder und macht sie zu reinen Sozialdienstleistern, die sich um das kümmern dürfen, wofür der Politik und der übrigen Gesellschaft die Gedanken fehlen. Diese Rolle gehört den Kirchen zweifellos auch, aber nicht ausschließlich. Mit einer solchen Forderung macht es sich die Bundestagspräsidentin übrigens auch selbst unerhört einfach. Denn es war der Deutsche Bundestag, der in seiner vorigen Legislaturperiode zu den existenziellen Lebensfragen nahezu unerhört sprachlos geblieben ist. Es mangelte nicht an kirchlichen Stimmen, die eine Entscheidung etwa zum assistierten Suizid herbeiführen wollten. Es mangelte an Resonanzraum im Hohen Haus – und letztlich an Entschlusskraft.
Übrigens können selbst diese Grenzfragen schnell zur Tagespolitik werden: In der Corona-Pandemie haben die Kirchen sehr mit sich gerungen, welche Antwort sie ihren Anhängern geben sollten. Und ja, da haben sie vielleicht nicht sofort die richtige Antwort gefunden. Doch wer weiß denn schon immer, wie die richtige Antwort lautet? Auch die Kirche besteht aus Menschen, die suchen und zweifeln, nicht wissen und hadern. Mangelnde Kreativität beim Umgang mit der Extremsituation kann man den Gemeinden nicht vorwerfen. In ihrem Bemühen, die Schwächsten vor dem unbekannten Virus zu schützen, hat die Kirche jedoch vielleicht versäumt, rechtzeitig die Stimme für jene zu erheben, die für Trost auch körperliche Nähe gebraucht hätten. Als die Erkenntnis dann kam, schwieg die Kirche dann nicht mehr – zum Leidwesen der Politik.
CONTRA: Führende Repräsentanten der Kirchen in Deutschland lassen sich viel zu oft vor einen parteipolitischen Karren spannen. Damit überschreiten sie ihre Rolle – und riskieren die Verstärkung der Austrittswelle, meint Klaus Wallbaum.
Julia Klöckner liegt mit ihrer Kritik an den Kirchen richtig – und gleichzeitig auch wieder nicht. Sie rügt, dass die Kirchen „beliebig“ und „austauschbar“ werden, wenn sie sich zu tagespolitischen Fragen äußern. Das kann zwar sein, beschreibt aber nicht den Kern des Problems. Dieser liegt nicht in der Einmischung von Kirchenvertretern in die politischen Debatten – auch beispielsweise ums Tempolimit, das von Klöckner in ihrem Interview als Beispiel genannt worden war. Das sollten Pastoren und Laienvertreter der Kirche ruhig tun, denn politische Debatten braucht die Demokratie. Es kann nicht genügend Menschen geben, die sich sachlich und dialogbereit am Diskurs beteiligen. Das Problem liegt vielmehr in der Parteilichkeit. Klöckner hat das jetzt gar nicht angesprochen, aber es ist tatsächlich ein Missstand.
Doch zunächst ein wichtiger Hinweis: Die Kirchen haben in Deutschland eine unverzichtbare Rolle. Sie leisten einen Beitrag zur Pflege der Gemeinschaft, zur Verständigung der Gruppen in der Gesellschaft. Ohne die Kirchen und ihren vielen ehrenamtlichen Helfer wären soziale Angebote in der vorhandenen Breite und Tiefe nicht zu sichern. Dass sich Pastoren, Diakone, Bischöfe und Synodale in ihren Funktionen auch zu politischen Streitfragen äußern, ist gut und richtig – sie haben es in früheren Jahrzehnten vermutlich zu wenig getan. Klöckner hat recht, wenn sie die Erwartung an die Kirche äußert, sich um die Sinnfragen nach Leben und Tod zu kümmern. Tatsächlich liegt darin ihr eigentlicher Auftrag. Daneben aber erklingen immer wieder zugespitzte politische Thesen – und das müssen Andersdenkende ertragen. Eine von denen, die das stets sehr drastisch tat, war die frühere hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann, die mit dem Satz „Nichts ist gut in Afghanistan“ vor 15 Jahren eine Distanz zur militärpolitischen Doktrin der Bundesrepublik formulierte.
„Das Problem der Kirche ist inzwischen die Einseitigkeit der politischen Ausrichtung.“
Soweit, so gut. Nur: Das Problem der Kirche ist inzwischen die Einseitigkeit der politischen Ausrichtung. Käßmann hatte auch aus der Kirche selbst noch viele Widerworte erfahren. Wenn aber heute fast alle Kirchenvertreter, die sich öffentlich einlassen, eine Nähe zu Positionen von SPD, Grünen und Linken haben, dann mag das zufällig sein – oder daran liegen, dass eben unter den Funktionsträgern der Kirche übermäßig viele Anhänger der linken Richtung sitzen. Das ist hinnehmbar, kann aber irgendwann die Glaubwürdigkeit beeinträchtigen - dann nämlich, wenn eine Gegenposition aus den Reihen der Kirchen kaum noch durchdringt. Die Finanzierung der Kirche wird gewährleistet durch Verträge, die von einem engen Miteinander mit staatlichen Institutionen gekennzeichnet sind. So läuft es auch mit der Kirchensteuer. Die Bringschuld der Kirche dafür, dass sie quasi über staatliche Hilfestellungen gestützt wird, ist die parteipolitische Neutralität. Das bedeutet konkret: Bei aller Klarheit der Positionen im sachlichen Meinungsstreit darf das nicht so weit gehen, dass die Kirche sich für oder gegen eine Partei betätigt – und zwar vor allem in Wahlkampfzeiten.
Es ist eine Grenzüberschreitung, dass der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, vor der AfD warnt. Es ist auch nicht in Ordnung, wenn Kirchenvertreter mit Gesandten aller Bundestagsparteien diskutieren, aber die AfD ausladen. Man mag mit vielen inhaltlichen Positionen der AfD hadern und sie heftig kritisieren, aber die Ausgrenzung der Partei und ihrer Repräsentanten ist verkehrt. Es war auch ein Fehler, dass ein Repräsentant der Kirche bei der Veranstaltung der „Omas gegen rechts“ am 8. Februar in Hannover gesprochen hat. Das war zwei Wochen vor der Bundestagswahl, und die Organisatoren hatten die Sprecher von CDU und FDP – wegen einer Asylrechts-Abstimmung im Bundestag – vorher medienwirksam ausgeladen. Damit wurde dieses Treffen zu einer Parteinahme gegen CDU, FDP und auch AfD. Jeder Redner, der dort auftrat, hätte das erkennen müssen – und von der Kirche hätte erwartet werden können, dass sie ihre Redner zurückzieht. Das geschah nicht, und der Repräsentant der evangelischen Kirche hat in seiner Rede sogar darauf verzichtet, diese Umstände zu erwähnen. Damit hat er sich vor einen parteipolitischen Karren spannen lassen.
Der Missbrauchsskandal, die anhaltende Austrittswelle, die innerkirchlichen Konflikte – all das macht die Arbeit von Bischöfen, Pastoren und Oberkirchenräten nicht einfacher. Dafür kann man Verständnis haben. Kein Verständnis habe ich vor der fehlenden Vorsicht, wenn es um die Gefahr der Parteipolitisierung geht. Viele Kirchenleute scheinen hier jede Hemmung verloren zu haben. Es ist ihnen egal - oder sie gehen den Konflikt bewusst ein. Aus vielen bürgerlichen Kreisen verabschiedet sich die Kirche damit. Ob das dazu beiträgt, dass viele Zweifelnde an ihrer Kirchenmitgliedschaft festhalten? Darüber sollte der demnächst in Hannover tagende Kirchentag auch mal diskutieren.