Darum geht es: Im Wissenschaftsausschuss des Landtags hat sich ein Vertreter des Landesregierung gestern deutlich vom Wirken des langjährigen hannoverschen Sozialpädagogik-Professors Helmut Kentler distanziert. Der 2008 gestorbene Sexualwissenschaftler soll Straßenkinder an pädophile Pflegeväter vermittelt und Sex mit Kindern generell verharmlost haben. Dazu ein Kommentar von Klaus Wallbaum.

Der Ton lässt aufhorchen. Stefan Jungeblodt, Referatsleiter für Hochschulrecht im Wissenschaftsministerium, hat gestern im zuständigen Landtagsausschuss das Wirken des 2008 gestorbenen Sozialpädagogik-Professors Helmut Kentler mit scharfen Worten verurteilt. Die Landesregierung übe „vorbehaltlose Distanz“ gegenüber den Taten dieses Sexualwissenschaftlers, außerdem unterstütze sie die „gründliche Aufarbeitung“. Was war geschehen? Zu Jahresbeginn hatte der „Spiegel“ darüber berichtet, dass der spätere hannoversche Hochschullehrer ein Projekt förderte, in dem Berliner Straßenkinder an Pflegeväter vermittelt wurden, die pädophil veranlagt waren. Es kam zum Missbrauch, einige Fälle sind kürzlich im „Spiegel“ geschildert worden. Ein hochdekorierter, bundesweit bekannter Wissenschaftler, der von 1976 bis 1996 Professor der Uni Hannover war, wirkte also als Kopf oder Schlüsselfigur eines Pädophilen-Ringes. Das ist ungeheuerlich. Erschreckend sind zudem mehrere Umstände dieser Affäre.

Erstens: Die Vorwürfe sind nicht neu, sie sind nur noch einmal wiederholt worden – übrigens zum dritten oder vierten Mal. Vor einem Vierteljahrhundert, 1993, protestierte die Frauenzeitschrift „Emma“ gegen Kentlers Forderung, Sex mit Kindern zu erlauben, sowie gegen sein Projekt zur Vermittlung von Kindern an pädophile Männer. Die Sozialwissenschaftler der Uni Hannover stellten sich damals schützend vor ihn. Jahre später kam der Fall wieder hoch – ohne große Aufregung. Als dann 2013 in einem großen Forschungsprojekt untersucht wurde, was die Grünen Anfang der achtziger Jahre dazu gebracht hatte, den Pädophilen in ihrer Partei ein großes Forum zu geben, fiel der Name Kentler erneut. In einem „Zeit“-Artikel von Oktober 2013 wurden die Vorgänge, die der „Spiegel“ zu Beginn dieses Jahres publizierte, schon einmal erwähnt. Doch die öffentliche Empörung hielt sich wieder einmal in Grenzen, sie konzentrierte sich damals zwar auf Akteure bei den Grünen. Die Rolle Kentlers jedoch wurde nicht vertieft, und es brauchte fünf Jahre bis heute, dass sich die Uni Hannover selbst zur Vergangenheitsbewältigung aufgerufen sieht.

Zweitens: Noch immer herrscht bei manchen, die über Kentlers Thesen und die Vergangenheit reden, eine merkwürdige Tendenz der Verharmlosung und Beschönigung. Wenn ein Mensch wissenschaftliche Begründungen dafür findet, dass Sex mit Kindern keine Gewalt sei, der Befreiung der Persönlichkeit und damit dem gesellschaftlichen Fortschritt diene, ist das widerwärtig. Wenn dieser Mensch zugleich ein Professor ist, der solche Thesen an wissenschaftlichen Nachwuchs vermittelt und seine Haltung in Gutachten und wissenschaftlichen Aufsätzen kraft seiner Autorität verbreitet, ist das noch schlimmer. Der Hinweis auf den Wandel der Sexualmoral in den siebziger Jahren, der sich gegen die Verklemmtheit und Prüderie der Adenauer-Zeit gerichtet habe, klingt wie eine Entschuldigung und wie die Aufforderung, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Da ist von „Befreiung“ die Rede, die aber nur gemeint war als Enthemmung der Täter. Dadurch, dass Pädophilie kombiniert wurde mit einer linken Gesinnung und der Überhöhung einer angeblichen modernen Sexualmoral, konnte sie im Wissenschaftsbetrieb zunächst ungehindert gedeihen – und dort später, womöglich bis heute, vor schonungsloser Aufarbeitung und auch strafrechtlicher Verfolgung bewahrt bleiben.

Drittens: Kentler selbst hat offenbar die Frechheit besessen, für seine Positionen die schlagkräftigste moralische Rechtfertigung zu formulieren, die er finden konnte. Beschrieben ist das sehr gut in dem „Zeit“-Artikel von Oktober 2013. Dort heißt es, der Professor habe sich gegen „die repressive Sexualmoral der Nazis“ gewandt. Die von ihm geforderte Liberalisierung – also eine Erlaubnis für Erwachsene, Sex mit Kindern haben zu dürfen – sei also ein Schritt des praktizierten Antifaschismus. Adam Soboczynski schreibt dazu treffend in der „Zeit“, dass diese These wohl maßgeblich für die fehlende Entrüstung über Kentler ist oder zumindest war: „Im grellen Kontrast zu Adolf Eichmann erscheint jeder Päderast als Unschuldslamm.“

Es darf nicht sein, dass sich der Wissenschaftsbetrieb bis heute noch abschirmt gegen unangenehme Fragen, die jetzt zwangsläufig sind: Trauen sich gerade linke Hochschullehrer vielleicht immer noch nicht, klar von Kentler abzurücken, weil sie meinen, damit eine Kernbotschaft der 68er Bewegung, die sexuelle Befreiung, zu verraten? Womöglich war es doch umgekehrt: Pädophile Gruppen, die ungehemmt ihren Trieben nachgehen wollten, haben sich der linken Ideologie als Deckmantel bemächtigt, sind als besonders fortschrittlich und modern aufgetreten, um doch nur ihre verabscheuungswürdigen persönlichen Interessen zu befriedigen. Deshalb muss unbedingt geklärt werden, wer Kentler geholfen hat, wer ihn förderte, unterstützte und beschützte.

 

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