Muss die Landtagswahl vom 9. Oktober 2022 für ungültig erklärt und eine Neuwahl angesetzt werden? Über diese Frage hatte am gestrigen Dienstag der Staatsgerichtshof in Bückeburg beraten. Es ging in diesem Verfahren um den Wahleinspruch der beiden FDP-Politiker Marco Genthe und Alexander Grafe, die sich über erhebliche Mängel im Vorfeld der Aufstellung der AfD-Landesliste Anfang Juli 2022 beklagten. Der Staatsgerichtshof unter Leitung des Präsidenten Wilhelm Mestwerdt erörterte in knapp zwei Stunden die Einwände von Genthe und Grafe, die vom Rechtsexperten Prof. Volker Boehme-Neßler unterstützt wurden. Am Ende kündigte Mestwerdt an, zur Beratung vermutlich doch länger zu brauchen als zunächst geplant. Daher sei es fragwürdig, ob man wie geplant am 9. Dezember schon ein Urteil sprechen könne. Diese Ansage spricht dafür, dass die Meinungsbildung im Staatsgerichtshof über das Für und Wider des Wahleinspruchs noch nicht so schnell wie bisher geplant abgeschlossen werden kann.

Der Staatsgerichtshof in Bückeburg. | Foto: Wallbaum

Die Beschwerdeführer von der FDP hatten im Wesentlichen das Argument der „schwarzen Kasse“ des heutigen AfD-Landesvorsitzenden Ansgar Schledde vorgetragen. Schledde hatte auf seinen Namen ein Konto angelegt, auf das zwischen 2020 und 2022 insgesamt 41.000 Euro mit AfD-Bezug eingezahlt wurden – neben den offiziellen Parteikonten, die auch existierten. Mehrere Politiker, die 2021 für die niedersächsische AfD auf guten Listenplätzen in den Bundestag eingezogen waren, hatten Beträge überwiesen, manchmal mit dem Verwendungszweck „Kriegskasse“. Auch sechs der 18 im Oktober 2022 gewählten AfD-Landtagsabgeordneten gehörten zu den Einzahlern. Der Spitzenkandidat Stefan Marzischewski überwies 572 Euro mit dem Zusatz „historische Aktien“, Schledde selbst gab 600 Euro, der heutige Fraktionschef Klaus Wichmann und der heutige Parlamentarische Geschäftsführer Jens-Christoph Brockmann – inzwischen sind sie Inhaber zweier zentraler Positionen in der heutigen Landtagsfraktion – zahlten zwischen 5400 und 5800 Euro. Diese Politiker standen auf den ersten vier Plätzen, die Bewerber für Platz 9 und Platz 17 gaben zwischen 800 Euro und 1000 Euro.

Prof. Volker Boehme-Neßler (links) und Marco Genthe. | Foto: Wallbaum

Das Gericht erörterte nun die Frage, was das eigentlich bedeutet: Haben Kandidaten lediglich in eine Kasse eingezahlt, aus der dann Bewirtungen, Hotelübernachtungen und Busfahrten zu Parteitagen gezahlt wurden? Dann wäre es wohl im Parteifinanzierungsrecht problematisch, da dies über eine „schwarze Kasse“ lief, aber es wäre noch kein Wahlrechtsverstoß. Oder wurden mit dem Geld in der Aufstellungsversammlung am 2. und 3. Juli 2022 in Dötlingen gezielt Delegierte belohnt, die als Gegenleistung einen bestimmten Bewerber für einen guten Listenplatz wählen sollten – weil das vorher zwischen Schledde und den Einzahlern besprochen gewesen sein soll? Diesen Verdacht äußern Genthe und Grafe in ihrem Wahleinspruch. Ihr Kronzeuge, der frühere AfD-Politiker Christopher Emden, ist indes abgetaucht, nachdem er Ende 2022 und noch später einige aufsehenerregende Interviews gegeben hatte. Heute hört und sieht man nichts mehr von ihm. Weitere Belege für eine gezielte Bestechung von Delegierten in der Aufstellungsversammlung in Dötlingen wurden in der Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof nicht vorgetragen. Allerdings sagte Gerichtspräsident Mestwerdt: „Wenn jemand einen Hundert-Euro-Schein in die Hand gedrückt bekommt mit der Ansage: Dafür wählst Du eine bestimmte Person – dann wäre der Wahlrechtsverstoß schon eklatant.“

Nun gibt es aber einige Hinweise, die die Vorwürfe relativieren: So hat nur eine Minderheit derer, die gute Listenplätze erhielten, überhaupt eingezahlt. Auch fanden zwischen Mai und Juli 2022, im unmittelbaren Vorfeld der Aufstellungsversammlung in Dötlingen, gar keine Einzahlungen statt. Nach den Worten von Genthe ist gleichwohl „ein System erkennbar“, das sich auch in einer eidesstattlichen Versicherung ausdrückt, die der ehemalige Schaumburger AfD-Kreisvorsitzende Dirk Fischer jüngst abgegeben hat. Fischer behauptet, Schledde habe ihm im November 2022 vor der Europawahl einen guten Platz auf der AfD-Bundesliste angeboten, wenn er denn bereit wäre, monatlich 10.000 Euro an den Landesverband zu zahlen. Auch wenn diese und andere Schilderungen nicht direkt die Einflussnahme belegen, so meinen Boehme-Neßler, Genthe und Grafe dennoch: Sobald es auch nur vage Hinweise darauf gibt, dass als Gegenleistung für Geldzahlungen die Unterstützung der Parteiführung für gute Platzierungen angeboten worden ist, liegt schon ein Verstoß gegen das Wahlrecht vor – denn dann werde das Klima des „Verkaufs“ von politischem Einfluss offenkundig. Landeswahlleiterin Ulrike Sachs hatte in ihrer Erwiderung einst die Hürden viel höher gelegt und auf konkrete Belege für den Verdacht bestanden. Außerdem meinte sie: Da auch spätere AfD-Abgeordnete gut platziert wurden, die offenbar nicht eingezahlt hatten, könne der Vorwurf des „Verkaufs von Listenplätzen“ gar nicht mit Sicherheit angenommen werden. Die Entgegnung von Genthe lautet: Für diejenigen, die nichts oder weniger einzahlten, habe es bestimmt andere Formen des Entgegenkommens der Parteiführung gegeben.

„Wenn auf einem Parteitag für bestimmte Kandidaten mobilisiert wird, ist das völlig normal. Es darf nur keine unzulässige Beeinflussung geben.“

Genthe und Grafe hatten noch ein Argument vorgetragen: Die AfD hatte ihre Landesliste am 2. und 3. Juli 2022 in Dötlingen per Delegiertenversammlung abgehalten, obwohl damals in der AfD-Satzung diese Delegiertenwahl noch gar nicht enthalten gewesen sei. Sachs hatte entgegnet, dass der Landesparteitag am 30. Mai 2022 immerhin entschieden hatte, dass die Kreisverbände vorsorglich Delegierte wählen sollten – für den Fall, dass die AfD keine ausreichend große Halle für eine Mitglieder-Vollversammlung finde. Nun meint aber Genthe, die Einladung zur Delegiertenwahl sei gleichwohl überraschend gekommen – und für viele AfD-Mitglieder unvorbereitet. Erst die Delegiertenversammlung habe es daraufhin der AfD-Parteispitze ermöglicht, vor der Nominierung der einzelnen Listenplätze gezielt auf vorher ausgeguckte Delegierte zuzugehen und sie zu beeinflussen. Aber wäre das schon ein Wahlrechtsverstoß? Hier sagt nun Gerichtspräsident Mestwerdt: „Wenn auf einem Parteitag für bestimmte Kandidaten mobilisiert wird, ist das völlig normal. Es darf nur keine unzulässige Beeinflussung geben.“ Diese könne es geben, wenn tatsächlich Geld geflossen sein sollte.

Wie geht das Verfahren nun aus? Mestwerdt stellte zu Beginn drei Grundsätze vor, die beachtet werden müssen. Erstens muss der Wahlfehler erheblich sein. Sollte das Gericht – trotz bislang fehlender Beweiserhebung an dieser Stelle – zu dem Schluss kommen, dass Geldzahlungen als Gegenleistung für Unterstützung bei der Kandidatenaufstellung geflossen sind, so wäre das wohl ein erheblicher Fehler. Dieser allein, so betonte der Gerichtspräsident, mache eine Wahl noch nicht ungültig. Zweitens müsse die Auswirkung des Fehlers erheblich sein. Nun hat die AfD bei der Landtagswahl am 9. Oktober 2022 immerhin 11 Prozent der Stimmen und 18 der 146 Mandate errungen – das Gewicht dieser Fraktion in der Landespolitik ist damit schon vorhanden, es handelt sich nicht um eine Splittergruppe oder nur wenige Verstreute. Die zweite Bedingung dürfte damit erfüllt sein. Drittens aber, betonte Mestwerdt, müsse die Erheblichkeit des Wahlfehlers geprüft werden – also die Frage, ob man eine Wahl für ungültig erklären kann und damit 128 Abgeordnete vorzeitig ihres Mandates beraubt, nur weil 18 Abgeordnete von der AfD auf wahlrechtswidrige Weise zu ihrem Sitz im Landtag gekommen sind. Was diese dritte Frage angeht, verzichtete der Staatsgerichtshof in seiner Verhandlung weitgehend auf eine Erörterung. Das könnte am Ende aber ein entscheidender Grund sein, weshalb womöglich die Landtagswahl vom höchsten Gericht des Landes nicht für ungültig erklärt wird.