Rot-Grün will mehr Beratungsstellen für einen besseren Kinderschutz schaffen
Niedersachsen soll ein Kinderschutzgesetz bekommen. Als 2019 der jahrelange Missbrauch auf einem Campingplatz in Lügde (Nordrhein-Westfalen) bekannt wurde, bei dem 31 Kinder Opfer wurden, ist nicht nur für Fachleute offensichtlich geworden: Verschiedene Institutionen müssen besser kooperieren, um Kinder wirksam zu schützen. Nordrhein-Westfalen hat bereits reagiert und ein Kinderschutzgesetz verabschiedet. Seit 2023 arbeitet auch in Niedersachsen ein Interministerieller Arbeitskreis (Imak) unter Federführung des Sozialministeriums an einem Maßnahmenpaket.
Im Mai 2024 meldeten sich der Kinderschutzbund und die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zu Wort und mahnten: Der Imak hinke dem Zeitplan hinterher, ein Zwischenbericht wurde entgegen der Ankündigung nicht öffentlich gemacht. Jetzt haben SPD und Grüne einen Entschließungsantrag in den Landtag eingebracht, in dem sie die von ihnen gestellte Landesregierung um einen Entwurf für ein Kinderschutzgesetz bitten. „Das brauchen Sie gar nicht“, konterte Sophie Ramdor für die CDU. „Der Entwurf kommt von ganz allein. Zu uns ist durchgedrungen, dass er im Herbst vorliegen soll.“

Marten Gäde (SPD) postulierte: „Kinder stehen in Niedersachsen an erster Stelle.“ Der Antrag von Rot-Grün sieht vor, im Kinderschutzgesetz die langfristige Förderung für die Kinderschutzzentren und Beratungsstellen sowie für die forensische Kinderschutzambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover und zwei lokale Ambulanzen in Göttingen und Rotenburg zu regeln. Eine auskömmliche Finanzierung ist auch eine Forderung der Verbände.
Bisher, erklärt Antje Möllmann vom Kinderschutzbund im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick, ist Niedersachsen nicht flächendeckend mit Beratungsstellen versorgt. Durch Tariferhöhungen und Inflation seien die Träger schlimmstenfalls gezwungen, ihre Angebote weiter zu reduzieren. Dabei seien die Aufgaben gewachsen, erklärt die Landesgeschäftsführerin: „Der digitale Bereich ist unfassbar explodiert. Eigentlich müssten wir einen Innovationsschub bekommen.“ Mittlerweile, sagt sie, montieren schon Kinder mithilfe künstlicher Intelligenz Gesichter ihrer Mitschüler in Pornobilder. Mit solchen Trends müssten die Berater Schritt halten können.
Ein „Herzstück“ ihres Antrages, erklärte Swantje Schendel von den Grünen, sei die Einrichtung einer Landeskoordinierungsstelle Kinderschutz, die bei Bedarf „schnelle und abgestimmte Maßnahmen“ ergreifen kann. Außerdem soll diese Stelle Schulen und Vereine dabei beraten, Schutzkonzepte zu erstellen. Hier würde Antje Möllmann gerne noch einen Schritt weiter gehen: Nach dem Vorbild von Nordrhein-Westfalen sollten alle Einrichtungen, in denen sich Kinder aufhalten, verpflichtet werden, ein solches Konzept zu erstellen. „Es geht nicht darum, einfach Papiere zu schreiben“, erläutert sie. Jede Einrichtung, die sich auf ein Schutzkonzept verständigt hat, habe ihrer Erfahrung nach einen Qualitätssprung gemacht. Kinder und Jugendliche können an dem Prozess mitwirken und ihre Bedürfnisse einbringen.

Die „allgemeinen Forderungen“ und „grundsätzlichen Ziele“ des Antrages seien richtig, befand die CDU-Abgeordnete Ramdor. Allerdings fehlen ihrer Fraktion „konkrete Maßnahmen“. Damit meinte sie Maßnahmen zur Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten, die die CDU schon lange fordert: Die Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten sowie die Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht, damit sich Kinderärzte über Verdachtsmomente austauschen können. Außerdem forderte Ramdor, die Medienkompetenz von Schülern zu stärken, damit sie nicht auf Kontaktanbahnungen von Tätern im Netz hereinfallen.
Vanessa Behrendt von der AfD attackierte direkt den kleineren Koalitionspartner: „Das ist der kürzeste Witz der Geschichte: Grüne fordern Kinderschutz.“ Sie berichtete von besorgten Eltern, die sich an sie gewandt haben. Diese Eltern fürchten, dass ihre Kinder im Kindergarten einer „pädophilen Sexualpädagogik“, wie Behrendt es nennt, ausgesetzt seien. Solche Anrufe von Eltern kennt auch Antje Möllmann vom Kinderschutzbund. Unter den Fachkräften hat sie ebenfalls eine „krasse Verunsicherung“ bemerkt, seit ein Kindergarten in Hannover mit einem Raum für sogenannte Körpererkundungen in der öffentlichen Kritik stand. Mit einer Fachtagung hat der Kinderschutzbund versucht, den Einrichtungen Orientierung zu geben.

„Es ist unstrittig unter Fachleuten, dass Kinder von Anfang an sexuelle Wesen sind“, erklärt Möllmann. Sexualität sei also nichts, womit Kinder lediglich von außen konfrontiert würden und was nicht in ihre Lebensphase passe. Nur, wenn Kinder Empfindungen und Handlungen benennen können, können sie ansprechen, dass eine Grenze überschritten ist. Die frühere Umgangsweise, Sexualität zu tabuisieren und zu reglementieren, habe keinen Schutz geboten: Jeder siebte bis achte Erwachsene müsse mit Missbrauchserfahrungen leben. Möllmanns Rat an Einrichtungen, die über ihren Umgang mit Sexualität diskutieren: „Man muss auf gemeinsame Werte kommen. Alle haben schließlich das Interesse, Kinder zu schützen.“
Dieser Artikel erschien am 21.06.2024 in der Ausgabe #114.
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