15. März 2023 · Wirtschaft

Ranking entscheidet über Reaktivierung: LNVG nimmt mindestens 25 Bahnstrecken in den Blick

In den frühen 1960er-Jahren hatte Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU) eine total verrückte Idee: Er setzte eine Sachverständigenkommission ein, um Lösungen für den „Verkehrsnotstand“ aufgrund der Überlastung der Straßen mit Kraftfahrzeugen zu finden. Die Fachleute stellten sich dabei unter anderem folgende Frage: „Wie können der Massenverkehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln und der Individualverkehr unter gleichzeitiger Berücksichtigung des Fußgänger- und Radfahrverkehrs so aufeinander abgestimmt werden, dass ein flüssiger und wirtschaftlicher Gesamtverkehr sichergestellt ist?“ Als Antwort darauf trat später unter Verkehrsminister Georg Leber (SPD) das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) in Kraft, damit sich die Länder den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in der Fläche auch leisten können.

In der Grafschaft Bentheim fahren die Züge jetzt wieder bis zum Bahnhof Neuenhaus. | Foto: Landkreis Grafschaft Bentheim

Auf eine Bilanz der damit verbundenen Bemühungen wollen wir an dieser Stelle verzichten. Wichtiger ist das, was ab 2025 geschieht: Dann steigen die GVFG-Mittel nämlich auf zwei Milliarden Euro pro Jahr praktisch um das Zehnfache. Außerdem wurde das Gesetz novelliert. „Durch die Änderung des GVFG auf Bundesebene bieten sich neue Chancen bei der Reaktivierung von Bahnstrecken“, erläutert Christoph Bratmann. Der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion findet es vor allem verlockend, dass die Fördersätze für Reaktivierungen auf bis zu 90 Prozent der Baukosten festgelegt wurden.

Bei der Auswahl und Priorisierung der wiederzubelebenden Bahnstrecken stellt sich der Landtagsabgeordnete aus Braunschweig jedoch auch auf Ärger ein. Bratmann rechnet mit Protesten von Anwohnern ebenso wie mit Neid unter den infrage kommenden Kommunen. „Es wird nicht nur Beifall geben, sondern auch Widerstände. Klar ist: Die politische Begleitung wird ganz entscheidend sein“, betonte der 53-Jährige jüngst im Wirtschaftsausschuss.

„Jetzt geht’s richtig los. Wir holen die Bahnstrecken vom Abstellgleis."

Detlev Schulz-Hendel, Grünen-Fraktionsvorsitzender

Detlev Schulz-Hendel | Foto: Sven Brauers

Dem „bekennenden Bahn-Junkie“ Detlev Schulz-Hendel (Grüne) glänzen bereits die Augen. Bei 60 Bahnstrecken sieht er die Möglichkeit für eine Reaktivierung, insbesondere das OHE-Streckennetz habe ein „irres Potenzial“. Als „Paradebeispiel“ für eine aussichtsreiche Streckenreaktivierung führt er den Abschnitt Lüneburg-Soltau (über Amelinghausen) ins Feld, mit der sich der Heide-Park Soltau, der Snowdome in Bispingen und auch die Leuphana-Universität in Lüneburg ans Streckennetz anschließen ließen. „Jetzt geht’s richtig los. Wir holen die Bahnstrecken vom Abstellgleis“, lautete Schulz-Hendels Ansage im Landtag.

Auch sein Parteikollege Stephan Christ erhofft sich eine „Renaissance“ für den Personenverkehr auf seit Jahrzehnten ungenutzten Schienen. „Dort, wo Strecken reaktiviert wurden, haben sie die Erwartungen übertroffen“, sagte Christ und verwies auf die Verbindung zwischen Bad Bentheim und Neuenhaus. „Seit 2019 fahren nun auf der 28 Kilometer langen Strecke wieder Regionalbahnen der Bentheimer Eisenbahn im Stundentakt. Weitere Halte sind in der Prüfung, eine Verlängerung einerseits nach Gronau, andererseits nach Coevorden in der Diskussion. Die Zahlen bestätigen den Erfolg. Die 2500 Fahrgäste an Werktagen zeigen, dass der Umstieg möglich ist“, betonte Christ. Als weitere Mittelzentren, die zwar Gleise aber keinen Schienenpersonenverkehr haben, nannte er Aurich, Clausthal-Zellerfeld, Duderstadt, Friesoythe, Lüchow, Stuhr, Sulingen und Zeven.

„Die Bürger warten nicht auf den nächsten Lenkungskreis. Sie wollen nicht neue Gutachten erstellen. Sie wollen endlich in den Zug steigen und nicht am stillgelegten Gleis stehenbleiben."

Marcel Scharrelmann, CDU-Landtagsabgeordneter

Marcel Scharrelmann | Foto: Filipp Romanovski

Die CDU steht grundsätzlich hinter der Bahnstrecken-Reaktivierung, die Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) als „ein Programm gerade für den ländlichen Raum“ bezeichnete. Dass Rot-Grün dazu einen Lenkungskreis einberufen will, sehen die Christdemokraten allerdings kritisch. „Die Bürger warten nicht auf den nächsten Lenkungskreis. Sie wollen nicht neue Gutachten erstellen. Sie wollen endlich in den Zug steigen und nicht am stillgelegten Gleis stehenbleiben“, sagte Marcel Scharrelmann. Allein in seinem Wahlkreis sieht der CDU-Politiker zwei Strecken, die sich für eine Reaktivierung anbieten würden: von Diepholz nach Nienburg und von Bassum nach Bünde. Außerdem nannte er den Moorexpress im Landkreis Osterholz. „Natürlich müssen die Kosten abgewogen werden, natürlich müssen Ranglisten erstellt werden. Aber wir müssen deutlich schneller in der Umsetzung sein“, sagte Scharrelmann.

Beim Moorexpress der EVB Elbe-Weser gibt es derzeit nur Sonderfahrten. Ein regulärer Streckenbetrieb wäre vielleicht aber auch möglich. | Foto: EVB Elbe-Weser

Er zitierte auch den früheren Bahnchef Hartmut Mehdorn, dass es keinem helfe, „heiße Luft durch die Gegend zu fahren“. Diese Gefahr bestehe bei unattraktiven Verbindungen. „Und die Attraktivität steht und fällt nun einmal mit der Anzahl der Verbindungen und der Verlässlichkeit“, betonte Scharrelmann. Er bemängelt, dass das Haltestellennetz auf verschiedenen Strecken zugunsten der Geschwindigkeit ausgedünnt wurde. Das habe unter anderem dazu geführt, dass der Dümmer – immerhin der zweitgrößte See in Niedersachsen nach dem Steinhuder Meer – nicht mehr an das Schienennetz angebunden sei. „Der Ticketpreis ist das eine, ebenso wichtig ist in unserem Flächenland Niedersachsen das Angebot an Verbindungen und Entfernung zur nächsten Haltestelle“, bestätigte auch Dörte Liebetruth (SPD). Sie fügte hinzu: „Nur mit einer möglichst guten Erreichbarkeit können wir unser Ziel erreichen, die Fahrgastzahlen in Bus und Bahn bis 2030 zu verdoppeln.“

"Der Ticketpreis ist das eine, ebenso wichtig ist in unserem Flächenland Niedersachsen das Angebot an Verbindungen und Entfernung zur nächsten Haltestelle."

Dörte Liebetruth, SPD-Landtagsabgeordnete

Dörte Liebetruth | Foto: Maximilian König

Bei der Auswahl der Strecken, die für eine Reaktivierung in Betracht gezogen werden, will Verkehrsminister Lies „nicht bei null anfangen“. Was genau darunter zu verstehen ist, erläuterte Carmen Schwabl von der Landesnahverkehrsgesellschaft (LNVG) im Wirtschaftsausschuss. Laut der LNVG-Chefin werden zunächst die 25 Bahnstrecken in den Blick genommen, die es bereits beim Untersuchungsverfahren 2013 in die zweite Runde schafften und nicht berücksichtigt wurden. „Man muss ja irgendwo ansetzen und wir wollen schnell in die Umsetzung kommen. Wir gehen davon aus, dass diese Strecken bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung einen Wert von über 1 erreichen können“, sagte Schwabl. Bahnstrecken mit einem schlechteren Wirtschaftlichkeitsfaktor dürften nicht für die Bundesförderung angemeldet werden. Wie genau die Reihenfolge bestimmt wird, nach denen die niedersächsischen Bahnstrecken später beim Bund für eine Förderung angemeldet werden sollen, ist noch offen.

„Wir planen ein gestaffeltes Verfahren, wo wir uns am Ende einem Ranking annähern – gemessen am Kosten-Nutzen-Faktor“, sagte Götz-Friedrich Schau, Referatsleiter im Wirtschaftsministerium für Schiene und ÖPNV. Es gibt zwar bereits mehrere Machbarkeitsstudien für verschiedene Bahnstrecken-Reaktivierungen in Niedersachsen. Laut Schwabl und Schau sind diese untereinander jedoch kaum miteinander vergleichbar. „Man muss diese Machbarkeitsstudien auf ein Level bringen, damit man überhaupt ein Ranking vornehmen kann“, sagte Schwabl. Eine Überarbeitung sei auch deswegen nötig, weil es für die Förderung neue ökologische und soziale Kriterien gebe. Außerdem werde Mittelzentren und touristischen Destinationen mittlerweile ein höherer Stellenwert eingeräumt.

„Die Reaktivierungen werden in den ersten Jahren keinen großen Fahrgästezuwachs bringen."

Carmen Schwabl, LNVG-Geschäftsführerin

Carmen Schwabl | Foto: LNVG

Die 90-Prozent-Förderung durch den Bund klingt zunächst sehr verlockend. „Was man aber dazu sagen muss: Das wirklich Teure sind die langfristigen Betriebskosten, die die Kosten der Reaktivierung teilweise um das Zehnfache übersteigen“, stellte Referatsleiter Schau klar. Ein Ranking sei daher unverzichtbar. „Es können nicht alle Wünsche erfüllt werden“, sagte er und verwies auf die begrenzten Regionalisierungsmittel, mit denen der Streckenbetrieb bezuschusst wird. Der Bund stelle den Ländern seit 2022 zwar eine Milliarde Euro zusätzlich zur Verfügung. Gemäß dem „Kieler Schlüssel“ erhält Niedersachsen davon aber nur 85 Millionen Euro, wovon wiederum die Hälfte an die LNVG ausgezahlt werde.

Schwabl zeigte sich jedoch optimistisch, dass die Mittel noch einmal aufgestockt werden. „Wir gehen davon aus, dass Bund und Länder unmittelbar nach der Einbringung des Deutschlandtickets in Verhandlungen um eine weitere Erhöhung der Regionalisierungsmittel einsteigen werden“, sagte die LNVG-Geschäftsführerin. Was die Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030 betrifft äußerte sich Schwabl dagegen verhalten und warnte vor zu großen Erwartungen. „Die Reaktivierungen werden in den ersten Jahren keinen großen Fahrgästezuwachs bringen“, sagte Schwabl und fügte hinzu: „Wir müssen die Bevölkerung auch an den ÖPNV gewöhnen.“ Dies könne etwa dadurch geschehen, dass man Buslinien einrichtet, die man später durch die reaktivierten Bahnstrecken ersetzt. Wer die Fahrgastzahlen schnell steigern wolle, müsse eher den Ausbau der bestehenden Regionalexpresse in den Fokus nehmen, so Schwabl.

Der Lenkungskreis für die Bahnstrecke-Reaktivierung soll sich erstmals am 11. April treffen. Eingeladen sind laut Schau unter anderem die zuständigen Sprecher der Landtagsfraktionen, die drei kommunalen Spitzenverbände, Verkehrsverbünde, VCD, VDV, der Verband „Einfach einsteigen“ und das Nahverkehrsbündnis Niedersachsen, zu dem wiederum der Fahrgastverband „Pro Bahn“, der SoVD und die Umweltverbände BUND und Nabu gehören. „Wir glauben, dass die Reaktivierung von Bahnstrecken am besten gelingt, wenn wir es gemeinsam tun, wenn wir alle mitnehmen“, betonte Liebetruth.


Diese 25 Bahnstrecken in Niedersachsen kommen für eine Reaktivierung infrage:

Stade – Hesedorf
Bad Bederkesa – Bremerhaven-Speckenbüttel
Nordenham-Blexen – Nordenham
Ocholt – Sedelsberg
Friesoythe – Cloppenburg
Westerstede – Ocholt
Norden – Dornum – Esens
Aurich – Abelitz
Rotenburg – Bremervörde
Lüneburg – Bleckede
Lüneburg – Soltau
Winsen (Luhe) – Hützel – Soltau
Zeven – Tostedt
Bremervörde – Osterholz-Scharmbeck
Eystrup – Syke
Holzhausen – Bohmte
Celle – Soltau
Celle – Beckedorf – Munster
Rinteln – Stadthagen
Meppen – Essen (Oldenburg)
Esens – Bensersiel
Wunstorf – Bokeloh – Steinhude
Braunschweig – Harvesse
Salzgitter-Bad – Salzgitter-Lebenstedt – Peine
Salzgitter-Lebenstedt – Salzgitter-Fredenberg

Quelle: MW
Dieser Artikel erschien am 16.3.2023 in Ausgabe #049.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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