
PRO: Wir sollten uns davor hüten, großzügig über Fehler und Schwächen hinwegzusehen. Die Corona-Krise hat zu einer Verschiebung der Belastungen geführt – und das betrifft ganz viele Menschen. Zur Gerechtigkeit gehört, dass man die Mängel klar benennt und versucht, Schräglagen zu korrigieren, meint Klaus Wallbaum.
Die Corona-Krise hat so vieles auf den Kopf gestellt, alte Gewissheiten sind binnen weniger Tage über Bord geworfen worden. Mitarbeiter von Reisebüros, Gaststätten, bestimmten Einzelhandelsgeschäften, Industriekonzernen und sogar Redaktionen wurden über die Kurzarbeit nach Hause geschickt, „Kurzarbeit Null“ hieß dann: ohne Tätigkeit, bei Fortzahlung nur eines Teils der Bezüge. Das Personal in den Supermärkten musste Sonderschichten fahren. In vielen Büros wurde die Mannschaft in zwei Hälften geteilt, die eine blieb die eine Woche zuhause, die andere dann die nächste. So wurde gewährleistet, dass sich die Kollegen möglichst nicht begegnen und nicht gegenseitig anstecken. Falls eine Besatzung krankheitsbedingt ausgefallen wäre, hätte die andere sofort einspringen können und sollen.Lesen Sie auch: Corona-Krise: Jeder dritte Schüler wurde nicht regelmäßig erreicht Ärztekammer-Chefin blickt mit Sorge auf die Grippe-Saison
Viele Dinge sind in der Not und mit guter Absicht geregelt worden. Viele Firmen und Verwaltungen bewiesen ihr organisatorisches Geschick – und die Mitarbeiter zeigten solidarisches Verhalten. Zug um Zug kehrt nun die Normalität zurück, und in einigen Wochen werden einige Grundregeln (Abstand halten, Masken tragen, Hygiene beachten) die bisher noch strengen Verbote und Schließungen ablösen. Gehen wir dann, aufatmend, wieder zum Alltag der Zeit von vor Anfang März über und vergessen all das Unangenehme der Corona-Krise? Das wäre leichtfertig. Denn wir müssen aufpassen, dass sich Neid und Missgunst nicht verschärfen. Dass die Stärkeren mehr tun, um den Schwächeren zu helfen, findet allgemeine Zustimmung. Aber es darf nicht dazu kommen, dass die Zuverlässigen sich engagieren, damit diejenigen kürzer treten können, die schon immer gern der Arbeit ausgewichen sind. Dazu wird es nötig, die Corona-Zeit aufzuarbeiten und nachträglich zu beleuchten. Hier ein paar Ansatzpunkte: Was läuft im Home-Office? Eltern, die gezwungen waren, zuhause ihre kleinen Kinder zu betreuen und nebenher ihre Arbeit zu leisten, sind in der Tat stark belastet worden – oft viel stärker als jene, die weiter das Büro besuchen durften. Es gibt auf der anderen Seite aber auch Fälle, in denen Mitarbeiter die Heimarbeit als Chance aufgenommen haben, sich den beruflichen Pflichten und der Erreichbarkeit zu entziehen. In Teams sind dann solche Kollegen stärker belastet, die ins Büro gehen und dort den Teil derer übernehmen, die im Home-Office sind. Vieles musste zu Beginn der Corona-Krise überstürzt geregelt werden. Nun aber, mit etwas Abstand, ist Aufarbeitung angesagt. Jeder Betrieb und jede Behörde muss prüfen, inwieweit es verbindliche Regeln geben muss, nach denen eine erfolgreiche Einbindung der Mitarbeiter in Heimarbeit gelingen kann. Ein „Schlupfloch in die Aus-Zeit“ von der Arbeit darf auf keinen Fall entstehen. Daher sollte das von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil voreilig angepriesene „Recht auf Heimarbeit“ nicht von vornherein an möglichst wenig Kontrollen, Regeln und Auflagen geknüpft werden. Diese Idee ist kein Schritt zur Vertrauensbildung, wenn Vorkehrungen gegen den Missbrauch fehlen.

CONTRA: Die Krise hat zwischenzeitlich die Sensibilität für gesellschaftliche Ungleichheit wieder verschärft, einige Risse sind in der Krise tiefer geworden. Doch nach Corona wird es wieder heißen: business as usual, meint Martin Brüning.
Die Corona-Krise wirkt wie ein Brennglas, durch das gesellschaftliche Ungleichheiten viel stärker wahrgenommen werden als zuvor. Frauen sind plötzlich wieder die Verlierer, wenn die Kindertagesstätte nicht öffnet. Geringverdiener machen sich größere Sorgen, dass es im Betrieb Kurzarbeit geben könnte, weil die gehobene Mittelschicht die Krise notfalls auch eine Zeitlang durch das besser gefüllte Sparkonto ausgleichen kann. Kinder mit schlechteren Bedingungen und aus einem schwierigeren sozialen Umfeld leiden unter den Schulausfällen mehr als Kinder, die sich – aus welchen Gründen auch immer – mit der Schule leichter tun. Zudem stellten Forscher der Universität Mannheim fest: Je niedriger der Schulabschluss, desto seltener können Angestellte ins Homeoffice wechseln. Während die Supermarktkassiererin unter erschwerten Bedingungen hinter Plexiglasscheiben schuften muss, machen andere es sich im Homeoffice mit dem Notebook auf dem heimischen Sofa bequem, wobei an der Stelle nicht ganz klar ist, wer hier den Nachteil erleidet. So ist es durchaus möglich, dass die Kassiererin froh ist, dass sie, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, weiter zur Arbeit gehen kann, während anderen das Homeoffice im heimischen Wohnzimmer schwer aufs Gemüt geht. Die Krise macht uns nicht ungleicher, sie hebt die nur die bestehenden Ungleichheiten stärker hervor. Das extremste Beispiel sind die bereits seit Jahren unethischen Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche, deren Folgen in der Corona-Krise nun dramatisch sind. Aber auch an anderer Stelle wird nun das verstärkt, was bereits vorher existiert hat. Im Büro fällt nun noch stärker auf, wer ranklotzt und wer die Zügel schleifen lässt, weil die Arbeit zwar weiter geleistet werden muss, allerdings unter erschwerten Bedingungen. Und die wirtschaftlichen Ungleichheiten können in der Krise existenzielle Ausmaße annehmen. Von einer „Hierarchie der Not“ spricht der Sozialwissenschaftler Stefan Sell. Je niedriger der Lohn, wie zum Beispiel in der Gastronomie oder im Einzelhandel, desto größer sind die Probleme.