26. Feb. 2023 · 
Kommentar

Pro & Contra: Sollen Klimaschützer mehr Gehör finden in politischen Institutionen?

Sie finden schon einen Weg, auf sich aufmerksam zu machen. Die Vertreter der „Letzten Generation“ suchen ungewöhnliche, auffällige und umstrittene Auftritte für ihren Protest. Sie wollen die Gesellschaft und die Politik wachrütteln mit dem Argument, dass keine Zeit bleibe für lange Diskussionen und sorgfältige Abwägungen – dass gehandelt werden müsse. So kleben sie sich auf der Straße fest und behindern den Autoverkehr. Einige bewerfen Kunstwerke in den Museen, und jüngst wurde die Regionsversammlung in Hannover von Aktivisten gestürmt. Überwiegend stößt das auf Unverständnis. Aber gibt es eine Berechtigung für die Forderung der Klimaschützer, in der Politik mehr Gehör zu finden? War es richtig, dass Hannovers OB mit ihnen einen Pakt geschlossen hat? Darüber diskutiert die Redaktion des Politikjournals Rundblick in einem Pro und Contra.

Mit einer Sitzblockade stören Umweltaktivisten der "Letzten Generation" den Verkehr vor dem Wirtschaftsministerium in Hannover. | Foto: Wallbaum

PRO: Über die Protestformen kann man streiten, aber die Anliegen der Klima-Aktivisten sollten unbedingt gehört werden. Dabei führt aber kein Weg vorbei an den dafür vorgesehenen Vermittlern, nämlich den Parteien, meint Niklas Kleinwächter.

Wer am lautesten schreit, wird am besten gehört. Man kennt das ja: vom Küchentisch, aus dem Kindergarten, vom Verhandlungs- oder Stammtisch. Aber wir wissen ja auch: So geht es eigentlich nicht. Jeder Pädagoge, Erziehungsratgeber oder Erwachsene mit Menschenverstand würde sagen, dass sich nicht derjenige durchsetzen darf, der am lautesten schreit oder den schrillsten Protest veranstaltet. Wenn der gestresste Vati dem Kind, das an der Kasse im Supermarkt unbedingt noch ein Eis haben möchte und sich deshalb auf den Boden wirft und mit allen Vieren um sich schlägt, nachgibt, hat er schon verloren. Deshalb hat das Agieren des hannöverschen Oberbürgermeisters Belit Onay (Grüne) in der vergangenen Woche bei mir zunächst ein Störgefühl ausgelöst. Da werden Straßen blockiert, Denkmäler beschmiert, sogar politische Gremien an ihrer Arbeit behindert – und zur Belohnung gibt es eine Einladung vom Oberbürgermeister, der sich persönlich um ihr Anliegen kümmert? Wo kämen wir denn hin, wenn das Schule machen und nun jeder so handeln würde?

Aber es tut ja, zumindest bislang, nicht jeder. Und es geht hier nicht um eine Lappalie, sondern um ein ernstes Anliegen. Auch wenn die Organisationsform der sektenähnlichen Guerilla-Truppe der „Letzten Generation“ bei mir Unbehagen auslöst, steht dahinter ein großes Thema: der Schutz unseres Planeten vor dem Klimakollaps. Zwar gehen wir in Niedersachsen, Deutschland und der EU dieses Thema durchaus beherzter an als die meisten anderen Regionen der Welt. Aber die Dringlichkeit effektiver Maßnahmen lässt sich insbesondere nach vielen Jahren des wissenden Nichtstuns und Verdrängens nicht mehr verleugnen. Ganz konkret in Niedersachsen reden wir ja nicht mehr über eine abstrakte Bedrohung durch die vom Menschen mitverursachten und beschleunigten klimatischen Veränderungen. Sondern wir erleben schon die Folgen des Klimawandels und reden immer auch darüber, wie wir uns an diese Folgen anpassen können und müssen: an den Küsten durch einen verbesserten Deichschutz; auf den Feldern durch angepasste Fruchtfolgen, angepasste Beregnung und angepasste Versicherungen gegen Starkregenereignisse; im Gesundheitswesen durch Vorbereitungen auf wiederkehrende Hitzeperioden, die besonders den Alten und Schwachen zunehmend zusetzen werden. Die konkrete Bedeutung der Klimapolitik wurde zudem vom Bundesverfassungsgericht ins Grundsätzliche gestellt: Es gibt einen Vorrang von Klimaschutzmaßnahmen. Man kann also, wenn man denn so will, die Proteste der Klimakleber und anderer als Erinnerung an diese Entscheidungen des höchsten Gerichts und auch der Parlamente verstehen.

Belit Onay und die Grünen-Politikerinnen Anja Ritschel, Swantje Michaelsen und Uta Engelhardt haben sich mit Vertretern der "Letzten Generation" im Neuen Rathaus von Hannover getroffen. | Foto: LHH

Heißt das nun, dass es richtig war, dass Belit Onay die Klimaaktivisten zu sich eingeladen hat? Zunächst kann man konstatieren: Da hat der Oberbürgermeister von Hannover für seine Stadt das Beste rausgeholt. Minimaler Aufwand, maximaler Ertrag. Ein Treffen, ein Brief und im Gegenzug keine Klimakleber-Aktionen mehr in Niedersachsens Landeshauptstadt. Der Preis, für den sich die Aktivisten da haben kaufen lassen, ist auf der Policy-Ebene, also inhaltlich gesehen, ein sehr geringer. Hannover selbst ändert dadurch ja noch gar nichts, dabei zielten die Aktionen der „Letzten Generation“ ja durchaus bewusst auf niedrigschwellige Veränderungen vor Ort: Tempo 30 oder die Einrichtung von sogenannten Klima-Gesellschaftsräten beispielsweise – wobei letztgenannte durchaus skeptisch zu betrachten sind.

Der allgemeine Trend hin zur vermeintlich machtvollen Exekutive, die von Interessengruppen direkt adressiert wird, ist in meinen Augen kein guter.

Auf der Polity-Ebene, also institutionell betrachtet, richtet das Agieren des Oberbürgermeisters allerdings schon einen gewissen Schaden an. Denn welches Mandat hat er als Verwaltungschef, politische Verhandlungen mit Protestieren zu führen? Nun ließe sich argumentieren, er habe nicht als Oberbürgermeister seinen Brief an die Fraktionschefs der im Bundestag vertretenen Parteien geschrieben, sondern als politischer Mensch und Mitglied der Grünen. Aber das wäre Haarspalterei. Bei aller berechtigten Kritik an der zögerlichen Klimapolitik des Staates haben die Klimaaktivisten kein Recht, die Rechtsordnung und die verfassungsrechtlich verbrieften, etablierten Institutionen zu umgehen. Der allgemeine Trend hin zur vermeintlich machtvollen Exekutive, die von Interessengruppen direkt adressiert wird, ist in meinen Augen kein guter. Unsere demokratischen Verfahren sind darauf ausgelegt, den Interessenausgleich sicherzustellen – durch Parlamente und andere Volksvertretungen, die öffentliche Debatte und die dort angelegte öffentliche Einbindung von Expertenwissen und Betroffenenperspektive.

Und dann haben wir noch eine Quasi-Institution in Deutschland, deren Auftrag es ist, als Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und Verfassungsorganen zu agieren: die Parteien. Sie und eben die Menschen darin sind diejenigen, die den Protest auf der Straße wahrnehmen, in einer Form annehmen und die Forderungen mitnehmen sollten. Dass Klimapolitik in den Fokus gerückt wird, ist wichtig. Dass Belit Onay die Proteste von der Straße geholt hat, ist gut für die Stadt – das Zeichen, das er damit aussendet, ist aber problematisch. Dass es den Parteien in der Landeshauptstadt offenbar nicht gelungen ist, ähnlich zu agieren, ist bedenklich. Sie sind es, deren Auftrag das gewesen wäre. Das sollten sie nun nachholen und damit beweisen, dass unsere Demokratie in der Lage ist, sich dem Klimawandel zu stellen, und dass es deshalb keiner Gesellschaftsräte bedarf.

Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ machen eine Sitzblockade in Göttingen. | Foto: Letzte Generation

CONTRA: Es gibt wichtigere und weniger wichtige Themen, die ein Staat regeln muss. Sicher gehört der Klimaschutz zu den wichtigeren. Aber die Vertretung der Klimaschutz-Interessen absolut zu stellen und radikalen Klimaschützern mehr Gehör zu schenken als anderen Gruppen, verträgt sich nicht mit der parlamentarischen Demokratie, meint Klaus Wallbaum.

Es ist ja zutreffend, dass der Klimaschutz über viele Jahre sträflich vernachlässigt wurde von der Politik. Daran sind dann aber auch alle Parteien und gesellschaftlichen Organisationen Schuld, die in den zurückliegenden Jahrzehnten Verantwortung getragen oder großen Einfluss auf Verantwortliche ausgeübt haben. Das gilt auch für jene, die erst jetzt so radikal auftreten. Die Versäumnisse kann man nachholen, man kann sie sogar beschleunigt nachholen. Die Pläne zur Abkehr von fossiler Energie sind sicherlich ein Beispiel für eine beschleunigte Änderung. Nun geht das den Vertretern der „Letzten Generation“ immer noch nicht schnell genug. Sie kleben sich auf Straßen fest, besetzen sogar – wie jüngst in Hannover – die Tagungsräume der politischen Gremien. Es sind dann apokalyptische Sprüche, Warnungen vor einem drohenden Weltuntergang, mit denen die Akteure aufwarten. Als Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay unlängst mit Vertretern der Gruppen einen Pakt geschlossen hat, sagte er eine Prüfung der Frage zu, ob die Landeshauptstadt die Forderung der „Letzten Generation“ nach einem „Gesellschaftsrat für Klimafragen“ im Bund unterstützen kann.

Mitglieder der „Letzten Generation“ stören eine Sitzung der Regionsversammlung in Hannover. | Foto: Letzte Generation

Damit geht der hannoversche OB entschieden zu weit. Das ungute Gefühl bleibt, dass erst der massive Protest, der Gesetzesbruch der „Klimakleber“ und vor allem ihr massiver und auch physischer Druck auf die Politiker das Einlenken von Onay bewirkt hat. Zahlen sich also Rechtsbruch, Sachbeschädigung und massives Auftreten für Demonstranten aus? Wenn das so wäre, hätte sich Onay quasi nötigen lassen. Das aber darf nicht sein, der Staat muss sein Gewaltmonopol verteidigen, dies muss Grundlage jeder Verhandlung sein. Die Demokratie funktioniert nur, wenn das Regelwerk des Rechtsstaats eingehalten wird.

Wer einen ‚Gesellschaftsrat für Klimafragen‘ installieren möchte, der sollte zur Bundestagswahl antreten und die Forderung im Wahlkampf offen vertreten.

Problematisch sind auch die Forderungen der Klimaschützer. Wer einen „Gesellschaftsrat für Klimafragen“ installieren möchte, wohl als Gremium mit Veto-Rechten gegenüber parlamentarischen Entscheidungen (anders ist es kaum zu verstehen), der sollte zur Bundestagswahl antreten und die Forderung im Wahlkampf offen vertreten. Dann müssten die Wähler entscheiden, ob sie dieses Anliegen teilen und es mit ausreichend Wählerstimmen belohnen wollen. Das ist nun mal der einzige mögliche Weg im parlamentarischen System. Auch ein Oberbürgermeister, der unter dem aktuellen Druck der Protestierenden steht, darf nicht vorgaukeln, diesen Weg einfach verlassen zu können oder „mal darüber zu reden“. Er muss sogar ausdrücklich auf die vorgesehenen Verfahren hinweisen, denn nur so kann er zeigen, dass er sie selbst ernst nimmt. Das gilt umso mehr, als es unter denen, die nun lautstark demonstrieren, auch etliche mit Unkenntnis über unser politisches System gibt.

Das führt zu der anderen Frage, ob diese üblichen Wege angesichts der Bedrohlichkeit des Klimawandels überhaupt noch akzeptabel sind. Anders ausgedrückt: Taugt das System der parlamentarischen Demokratie, das auf den Ausgleich unterschiedlich stark vertretener Interessen und auf verträgliche Kompromisse bei den Lösungen angelegt ist, in diesen Zeiten einer globalen Bedrohung noch aus? Oder ist die Entscheidungsfindung viel zu langsam und schwerfällig, sind die Ergebnisse viel zu aufgeweicht durch den Versuch, möglichst allen Seiten gerecht zu werden? Die aktuelle Praxis widerlegt den Verdacht. Die klaren Entscheidungen für Erneuerbare Energie, begünstigt durch die Abkehr vom Gas als Folge der Abkehr von Russland, zeigen die starke Bedeutung des Klimaschutzes im Ranking der Interessen. Die Positionen von Industrie, Landwirtschaft, ja auch Naturschutz treten gegenwärtig hinter denen des Klimaschutzes zurück.

Die Behauptung, die parlamentarische Demokratie sei zu langsam, kann also zurückgewiesen werden. Natürlich geht alles noch schneller und noch entschlossener. Ein autoritäres System wie in China oder Russland könnte Änderungen schneller umsetzen, denn dort müssten die Menschen gehorchen, die Mitwirkung von Betroffenen etwa bei der Transformation der Industrie ist dort nicht vonnöten. Nur: Gibt es nur ein einziges Land auf der Welt, das autoritär geführt wird und die globalen Interessen des Klimaschutzes prioritär verfolgt? Nein. Die wahren Interessen dieser autoritär regierten Systeme sind doch vor allem auf Mehrung der eigenen Macht und Auslöschung des Freiheitswillens der Menschen ausgerichtet, damit also auf Vernichtung der Demokratien als einer gefährlichen Staatsform. Die „Ökodiktatur“, die den Menschen harte Auflagen abverlangt mit dem Ziel einer Rettung des Planeten, ist eine bloße Fiktion.

Dieser Artikel erschien am 27.2.2023 in Ausgabe #036.

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