Prantl im Landtag: Demokratie muss näher zu den Bürgern – über Volksabstimmungen
Der langjährige Politikjournalist der „Süddeutschen Zeitung“, Heribert Prantl, hat als Festredner zum 75. Jubiläum des Landtags für die Einführung von Elementen der direkten Demokratie geworben. „Die Demokratie muss näher an die Menschen heran, gerade nach den Krisen der vergangenen Jahre“, sagte er beim Festakt vor den Landtagsabgeordneten und vielen Ehrengästen im Plenarsaal. Die Beteiligung der Menschen über Volksabstimmungen sei als „wichtige Ergänzung“ der Arbeit der Volksvertreter erforderlich. Das folge für ihn aus dem Satz im Grundgesetz, dass „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht“. Die zweite Empfehlung des Journalisten lautete, es müsse Mediation geben – das Zusammenführen zerstrittener Gruppen, Parteien und Verbände, die sich nach der Corona-Krise schärfer denn je wortlos gegenüberstünden.
Prantl sagte, leider werde das Wort „Kompromiss“ immer noch mit dem Attribut „faul“ verbunden und abgewertet. Dabei werde der Kompromiss kompromittiert, und oft sei das verknüpft mit der „Sehnsucht nach einem starken Mann an der Spitze“. Man sehe das bei „den gegenwärtigen Autokraten in der Welt“, fügte er hinzu – ohne aber den Namen des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu nennen. Diese „Kraftmeierei und Kraftprotzerei“ missachte die Individualität und habe historische Vorbilder wie etwa Alexander den Großen, der einst den Gordischen Knoten durchschlagen hat. „In Wirklichkeit könnten die Probleme nicht vereinfacht oder mit dem Durchschlagen eines Knotens gelöst werden. Was hilft, ist das mühsame Zupfen und Ziehen an den Enden – aber am Ende bleiben die Schnürsenkel heil“, betonte Prantl.
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Der Festredner verknüpfte seine Botschaften mit einer historischen Reminiszenz: Was den Landtag in Hannover heute noch präge, sei der „Geist der Göttinger Sieben“. Die Weigerung der Professoren, dem hannoverschen König Ernst August zu huldigen, nachdem dieser die Verfassung mit einem Federstrich aufgehoben habe, sei bis heute prägend für Niedersachsen. „Das ist getragen von der Botschaft, dass die Politik dem Recht untergeordnet ist und nicht umgekehrt“, hob Prantl hervor und regte an, den Spruch am Ernst-August-Denkmal vor dem hannoverschen Hauptbahnhof zu verändern. Statt „Dem Landesvater sein treues Volk“ solle dort besser der Satz von Jakob Grimm stehen: „Das Recht muss nie der Politik angepasst werden, wohl aber die Politik dem Recht.“
Neben dieser Bindung der staatlichen Gewalt an Grundrechte der einzelnen sei noch eine andere Botschaft von Grimm elementar, die dieser 1848 in der Paulskirchenversammlung geäußert hatte: „Alle Deutschen sind frei, deutscher Boden duldet keine Knechtschaft.“ Für Prantl kommt noch etwas hinzu, was er anhand einer Begegnung des früheren Bundestagsvizepräsidenten Carlo Schmid (SPD) mit dem ersten Kanzler Konrad Adenauer (CDU) beschrieb: Adenauer habe Schmid vorgehalten, dass er „immer an den Menschen glaube“, wohingegen er, Adenauer, diesen Glauben nicht mehr gehabt habe. Nun meint Prantl: „Eine Demokratie, die den Menschen nicht mag, ist keine gute Demokratie.“
Das Parlament darf sich nicht von der Exekutive den Schneid abkaufen lassen – wie das in Krisenzeiten immer wieder geschieht.
Heribert Prantl in der Festrede zum 75. Jubiläum des Landtags von Niedersachsen
Die Einwände gegen Volksbegehren kenne er schon, sagte Prantl, man dürfe das Instrument auch nicht überstrapazieren – und das Parlament müsse „immer im Zentrum bleiben“ und „Selbstbewusstsein zeigen“. Er sehe aber viele gute Ergebnisse von direkter Demokratie, so sei auf diesem Weg in der Schweiz schon 1971 der Umweltschutz in die Verfassung gekommen, in der Bundesrepublik aber erst 1994. Der Festredner appellierte an die Landtagsabgeordneten, sie dürften sich „nie von der Exekutive den Schneid abkaufen lassen“, auch nicht in Dauer-Krisenzeiten, wie es sie während der Corona-Pandemie gegeben hatte. Oft geschehe das mit dem Hinweis auf notwendige Schnelligkeit und Entschlossenheit.
Der Kompromiss als Ausgleich verschiedener Interessen komme zu kurz – und das könne der Natur schaden, „wenn irgendwann alle Ausgleichsflächen planiert sind und Deutschland nur noch ein einziges großes Gewerbegebiet ist“, aber auch dem sozialen Frieden. Der Kompromiss als erstrebenswertes Ziel der Demokratie stehe für ihn in Verbindung mit dem Sozialstaat als „größte Errungenschaft der europäischen Geschichte“. Daraus folge die Aufgabe, den Schwachen und Benachteiligten, die vom Schicksal nicht gut bedacht worden seien, zu helfen.
Zum Auftakt des Festaktes hatte Landtagspräsidentin Gabriele Andretta erklärt: „Der Angriff Russlands auf die unabhängige und souveräne Ukraine ist ein Angriff auf uns alle. Die Ukraine verteidigt unsere Werte, wenn sie gegen die russische Invasion kämpft.“ Ministerpräsident Stephan Weil meinte, Niedersachsen habe „die Pflicht zur Unterstützung der Opfer des Angriffskrieges“.
Dieser Artikel erschien am 16.05.2022 in der Ausgabe #091.
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