14. Juni 2020 · 
Inneres

Pistorius will entschlossener gegen das Agieren krimineller Großfamilien vorgehen

Das Auftreten krimineller Großfamilien in Niedersachsen bereitet Innenminister Boris Pistorius (SPD) zunehmend Sorge. Der Sozialdemokrat kündigte an, dass die Polizei ihre Strategie im Vorgehen gegen diese Erscheinungen verändert und sich künftig stärker darauf konzentriert. Zum einen würden Vorkommnisse, die solchen Clans zuzuordnen sind, jetzt von vornherein polizeilich registriert. Bisher geschah das erst im Nachhinein, bei der nachträglichen Auswertung der Statistik. Außerdem will die Polizei an Orten, an denen die Aktivitäten solcher Gruppen sich häufen, viel massiver und nachhaltiger auftreten. „Überall dort, wo Leute meinen, die Straße gehöre ihnen, wird die Polizei stärkere Präsenz zeigen und punktuell die Einsatzkräfte der Bereitschaftspolizei hinzuziehen, wenn es nötig sein sollte“, betonte Landespolizeipräsident Axel Brockmann. Er sprach von einer Strategie der „Deeskalation durch Stärke“.

Erstmals Lagebild zur Clan-Kriminalität veröffentlicht

Erstmals haben Pistorius, Brockmann und LKA-Präsident Friedo de Vries ein „Lagebild“ zur Clan-Kriminalität öffentlich präsentiert, denn die früheren Einschätzungen zu diesem Phänomen waren intern geblieben. Danach hat es im vergangenen Jahr 2630 Ereignisse gegeben, in denen die Polizei gerufen wurde – davon waren 1585 Straftaten, auch Hochzeitskorsos, Verkehrsunfälle, Streitigkeiten zwischen Gruppen, Drogenhandel und provokatives Auftreten zählten dazu. 1646 Personen wurden als Verdächtige erfasst, davon waren 87 Prozent Männer und die Hälfte jünger als 30 Jahre. Die meisten besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft und sind hier geboren, daneben fallen als Herkunftsländer der Libanon, die Türkei, Syrien und Rumänien auf.
Nicht alle, die zu dieser Gruppe gehören, sind automatisch Mitglieder verdächtiger Clans.
Eine Gruppe, die schon seit vielen Jahren für derartige Erscheinungen im Fokus steht, sind die sogenannten Mhallamiye-Kurden (M-Kurden), deren Vorfahren ursprünglich aus der Türkei kommen, in den Libanon ausgewandert sind und im dortigen Bürgerkrieg der achtziger Jahre nach Deutschland und in andere europäische Länder geflohen sind. „Nicht alle, die zu dieser Gruppe gehören, sind automatisch Mitglieder verdächtiger Clans“, betonte Brockmann. Ein Drittel der Tatverdächtigen in der niedersächsischen Clan-Kriminalität des Jahres 2019 sind M-Kurden, ihnen werden viele Straftaten zugeschrieben. Auffällig ist immer wieder, dass viele Familienmitglieder als Unterstützer oder Beschützer von Gewalttätern oder Provokateuren agieren.

Taten führen zu Provokation und Angst

Pistorius betonte, die Clan-Kriminalität mache in der Gesamtstatistik der Straftaten in Niedersachsen „nur einen Promillebereich“ aus. Doch die Taten und Ordnungswidrigkeiten seien mit Umständen verbunden, die oft provozierend seien und vielen Menschen Angst einflößen könnten. So würden Polizisten nicht akzeptiert und lächerlich gemacht. Es gebe gefährliche Fahrmanöver, Autofahrten mit erhöhter Geschwindigkeit in Innenstädten, Schusswaffengebrauch und menschengefährdende Bremsaktionen auf Autobahnen. „Viele Personen werden aggressiv, akzeptieren die Rechtsordnung nicht und wollen bewusst die Stimmung eskalieren lassen, etwa bei Verkehrskontrollen“, betont Pistorius. Die Familienehre stehe bei ihnen über der Rechtsordnung – „und das werden wir nicht akzeptieren“. In den vergangenen Wochen kam es in Peine zu mehreren Vorkommnissen: Eine Polizistin, die in der Innenstadt wohnte, wurde mehrfach bedroht, ihr Auto wurde beschädigt. Ein Kollege von ihr wurde bis nach Hause verfolgt, Clan-Mitglieder postierten sich vor der Wohnung und übten mit provokativere Wache vor dem Gebäude Druck auf ihn aus – ohne bereits über eine direkte Drohung straffällig geworden zu sein. Die Polizistin ist inzwischen versetzt worden. Die Polizei werde künftig überlegen, in Peine „einen Gang höher zu schalten“, betonte der Minister. So wird überlegt, ob eine mobile Wache der Polizei vorübergehend dort stationiert werden soll. Brockmann und de Vries hoben hervor, dass es in Niedersachsen keine Schwerpunkte der Clan-Kriminalität gibt. Sicherlich falle der Blick gegenwärtig auf den Raum Peine/Salzgitter, ähnliche Erscheinungen gebe es aber im ganzen Land – und auch längst nicht nur in Ballungsräumen, sondern auch in ländlichen Gegenden. Pistorius räumte ein, dass die Polizei in den vergangenen 40 Jahren „nicht immer konsequent genug“ gegen das krimineller Auftreten bestimmter M-Kurden vorgegangen sei. Dies solle jetzt anders werden.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #111.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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