„Pflegenotstand? Die aktuelle Lage ist erst ein kleiner Vorbote“
„Wir erzählen seit zwei Jahrzehnten immer das gleiche. Damals zeichnete sich der Pflegenotstand ab, heute sind wir mittendrin“, sagt SPD-Sozialexperte Uwe Schwarz. Etwa ein Dutzend Experten haben SPD- und CDU-Fraktion in den Landtag eingeladen, um mit ihnen über die „Baustelle Pflege“ zu sprechen. Passend zum Termin hatte die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Freien Wohlfahrtspflege am Wochenende dramatische Zahlen aus der ambulanten Pflege veröffentlicht. Demnach nehmen viele Pflegedienste keine neuen Patienten mehr an und kündigen sogar bestehende Verträge, weil ihnen die Fachkräfte fehlen. Und warum fehlen sie? Zu wenig Geld für einen zu harten Job, zu wenig Wertschätzung, zu wenig Ausbildung – so lautet der allgemeine Tenor.
"Pflege ist Sklaverei"
Martin Dichter vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe gibt auch Kurse für Beschäftigte in der Pflege. „Was ist Pflege?“, habe er in einem Kurs gefragt, berichtet Dichter. „Da gingen sofort mehrere Hände hoch und die erste Antwort lautete: Pflege ist Sklaverei.“ Das mache deutlich, wie hoch das Frustpotenzial in der Pflege inzwischen sei, meint Dichter. Auch Annette Klausing von der Gewerkschaft Verdi fragt, wie attraktiv der Beruf wohl sein könne, wenn man sich die derzeitigen Beschäftigungsverhältnisse ansehe. Zumeist würden nur der Geschäftsführer und der Pflegedienstleiter Vollzeit arbeiten, alle anderen nicht. „Ein Drittel von ihnen hat die Teilzeit selbst gewählt, ein Drittel bekommt vom Arbeitgeber nur eine Teilzeitstelle und ein Drittel reduziert aus gesundheitlichen Gründen“, so Klausing.
Der Fokus richtet sich vor allem immer wieder auf die ambulante Pflege. Trotz des vielfachen Wunsches, so lange wie möglich zuhause zu bleiben, steige inzwischen die Nachfrage nach stationären Plätzen, berichtet Christoph Brauner von der LAG der Freien Wohlfahrtspflege. „Das ist ein klares Indiz dafür, dass die ambulante Pflege nicht mehr handlungsfähig ist.“ Auch Ronald Richter, Professor für Sozialrecht, sieht vor allem in der ambulanten Pflege große Probleme. „Der Personalschlüssel in der stationären Pflege ist inzwischen völlig in Ordnung. Aber in der ambulanten Pflege kneift es.“
https://soundcloud.com/user-385595761/sovd-pflegende-angehorige-bekommen-zu-wenig-unterstutzung
Für Richter, der auch die erste Wahl der neuen niedersächsischen Pflegekammer leitet, ist der aktuelle Notstand nur ein kleiner Vorbote. Dramatisch werde es erst, wenn die Babyboomer gepflegt werden müssen. Das macht er am Jahr 2035 fest. Dann werden diejenigen 80, die 1955 geboren wurden. Und schon jetzt ist klar, dass es schwierig wird, in den kommenden Jahren die Zahl der Pflegekräfte drastisch zu erhöhen. Allein in Niedersachsen fehlen bis zum Jahr 2030 bis zu 52.000 Pflegekräfte. Angesichts der aktuellen Fakten sehen viele Teilnehmer der Anhörung die von Sozialministerin Carola Reimann vorgeschlagene Studie zur Versorgungssituation als unnötig an.
„Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wir wissen wo die Probleme liegen. Deshalb brauchen wir auch keine neue Studie“, sagt Henning Steinhoff vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste. Auch Helmut Glenewinkel von der AOK Niedersachsen ist nicht klar, was eine weitere Studie bringen könnte. Kein Wunder, die AOK und andere Pflegekassen sollen die Studie nach dem Wunsch der Ministerin schließlich bezahlen. „Das sollten die Pflegekassen, die den Sicherstellungsauftrag für die pflegerische Versorgung haben, vorantreiben“, hatte Reimann argumentiert.
https://soundcloud.com/user-385595761/sozialministerium-darum-braucht-es-noch-eine-studie-zum-pflegenotstand
Trotz angeblich klarer Faktenlage sind sich nicht alle Experten am Tisch bei jedem möglichen Lösungsvorschlag einig. Während Steinhoff dafür plädiert, ausländische Pflegekräfte anzuwerben und auch Hilfskräfte als dringend nötig ansieht, sieht Martin Dichter das vollkommen anders: „Es macht keinen Sinn, bildungsferne Schichten auch Menschen ohne Sprachkenntnisse an den Beruf heranzuführen. Man benötigt schließlich verbale und nonverbale Fähigkeiten“, so Dichter.
Auch der Tarifvertrag für alle entpuppt sich nicht als Allheilmittel. Steinhoff bemängelt, dass manchen Anbieter einfach die Verhandlungspartner fehlten, selbst wenn sie einen Tarifvertrag abschließen wollten. Grund ist der niedrige Organisationsgrad der Gewerkschaften in der Branche. Zustimmendes Kopfnicken bekommen Ines Henke vom Niedersächsischen Landkreistages (NLT) und Christa Röder vom Landesseniorenrat, als sie das Modell der Gemeindeschwester loben. Vorbild ist ein Modell aus Rheinland-Pfalz. Dort steht die Gemeindeschwester älteren Menschen, die noch keine Pflege benötigen, mit Rat und Tat zur Seite. Den Kommunen zufolge funktioniert so ein Modell sehr gut, sagt Henke.
Keine Werbeveranstaltung für den Beruf des Pflegers
Über drei Stunden dauert die Anhörung. Man erfährt vieles über den „Notstand“ und dass es bereits lange fünf vor zwölf sei. Aber nur zweimal hört man etwas Positives, was junge Menschen dazu bewegen könnte, den Pflegeberuf trotz aller Probleme vielleicht überhaupt einmal in Betracht zu ziehen. Christa Röder vom Landesseniorenrat spricht an einer Stelle von einem guten Beruf und Hanno Kummer vom Verband der Ersatzkassen sagt, die Pflege biete dezentral sichere Arbeitsplätze in einer Zukunftsbranche. Ansonsten ist die Anhörung nicht gerade eine Werbeveranstaltung für den Beruf des Pflegers.
Aber vielleicht braucht die Politik, die Ronald Richter zufolge lenkend eingreifen muss, ja den nötigen Schub. „Es kommt auch darauf an, wie wir eigentlich selbst gepflegt werden wollen“, sagt SPD-Sozialpolitiker Uwe Schwarz. „Und wenn wir uns anschauen, wie sich das gerade entwickelt, kommt man wahrscheinlich zum Ergebnis: so doch lieber nicht.“ (MB.)Dieser Artikel erschien in Ausgabe #100.