Pflegekräfte wollen die Ärzte entlasten – aber leider setzen die Gesetze noch enge Grenzen
„Dieses System ist irre“, sagt Christine Vogler. Als Präsidentin des Deutschen Pflegerates vertritt sie die Pflegekräfte im Land. Beim diesjährigen „Versorgungsdialog“, den die Landesvertretung der Barmer-Krankenkasse zusammen mit der „Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V.“ veranstaltete, nannte sie Beispiele. Da ist die Führungskraft, die mit Mühe ihre Schichten besetzt, ihre Mitarbeiter motiviert und ihre Dokumentationspflichten erfüllt hat und dann aus der Tagesordnung für die nächste Dienstbesprechung erfährt: Sie soll jetzt auch noch Ideen entwickeln, welche Aufgaben der Ärzte die Pflegekräfte übernehmen können, um die Mediziner zu entlasten. Es sei nicht die Schuld der Ärzte, erklärte Vogler: „Sie müssen die Zahl der Fälle hochtreiben, um das Haus finanzieren zu können.“ Doch es seien leider wieder die Pflegekräfte, die es richten sollen.

Dabei, das wurde bei der Tagung in Hannover deutlich, würden viele Pflegekräfte sehr gern mehr Verantwortung übernehmen, allerdings mit gesetzlicher Rückendeckung. Eine solche Absicherung sollte das „Gesetz zur Stärkung der Pflegekompetenz“ bringen. Das Bundeskabinett hatte sich zwar darauf verständigt, es kam aber nicht mehr im Bundestag zur Abstimmung. Darin sollte festgeschrieben werden, dass Pflegefachpersonen „heilkundliche Aufgaben“ ausüben dürfen. Das klingt nach einem Paradigmenwechsel, denn solche „heilkundlichen Aufgaben“ sind bisher Medizinern vorbehalten. Allerdings, kritisierte Jasmin Arbabian-Vogel, Pflegeunternehmerin aus Hannover, hätte das Gesetz für sie keine Probleme gelöst: „Es sieht vor, dass Pflegekräfte noch mehr Leistungen erbringen müssen. Aber sie dürfen diese Leistungen weiterhin nicht selbst verordnen.“ In anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden, Dänemark oder Italien sei das anders, erläuterte der Allgemeinmediziner Armin Saak: „Hier bekommen Patienten erstmal gar keinen Arzt zu sehen.“ Am Telefon oder in einem Gesundheitszentrum schilderten sie ihre Beschwerden einer Pflegekraft. Diese entscheide dann eigenständig über weitere Maßnahmen. Nur, wenn sie es für nötig halte, würden die Patienten weiter zum Arzt geschickt. Für mehr als die Hälfte seiner Tätigkeiten, schätzt der Hausarzt aus Gifhorn, brauche man gar keine ärztliche Qualifikation. Er sieht seine Aufgabe eher als „Konsiliar“ in einem gemischt-professionellen Team.

Ein Modellprojekt in Gifhorn sollte zeigen, wie das System entlastet werden kann. Ambulante Pflegekräfte sollten selbst über Maßnahmen entscheiden, ohne dass die Patienten jedes Mal dem Arzt vorgestellt werden müssen. Aus der Richtung seiner Berufskollegen, berichtete Saak, sei ihm harscher Gegenwind entgegengeweht. Schließlich bremste Corona das Projekt aus. Und noch eine weitere Schwierigkeit tauchte auf: Geplant war, dass die Pflegekräfte dem Arzt per Videocall zum Beispiel eine Wunde zeigen können, um sich spontan darüber zu beraten. Doch im ländlichen Raum reichte die Netzabdeckung für eine solche Fern-Übertragung nicht aus. „Wir können es uns nicht mehr leisten, dass immer erst eine Verschreibung vom Arzt vorliegen muss“, argumentierte die Pflege-Lobbyistin Christine Vogler. „Es geht nicht darum, den Ärzten etwas wegzunehmen. Es geht um eine andere Arbeitsteilung, um unsere Aufgaben zu schaffen.“ Vogler forderte auch, dass Pflegepersonal den Pflegegrad eines Patienten selbst einschätzen sollte. Ein Vertreter des Medizinischen Dienstes aus dem Publikum widersprach: Das Problem sei nicht, dass Pflegekräfte dazu nicht in der Lage wären, sondern dass sie als Leistungserbringer nicht unabhängig seien. Vogler blieb bei ihrem Standpunkt, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass doch alle Beteiligten das Gleiche, nämlich eine gute, bezahlbare Versorgung wollten. Nur die Umstände blockierten das: „Das System macht uns zu Gegnern.“
Von der Universität Würzburg war Professorin Melanie Messer nach Hannover gekommen. In der bayerischen Stadt gibt es, anders als in Niedersachsen, eine grundständige akademische Pflegeausbildung. „Inzwischen dürfen wir in den Studiengängen heilkundliche Fähigkeiten lehren“, berichtete sie. „Aber es ist offen, ob die Studenten das später überhaupt anwenden dürfen.“ Mittlerweile, erklärte sie, gebe es in Deutschland einige Bachelor-Studiengänge für Pflegekräfte. Allerdings fehle es noch an Masterstudiengängen und Möglichkeiten zur Promotion. „Wir brauchen eine Spezialisierung auf Master-Niveau für die Onkologie, die Psychiatrie und die Transplantationspflege“, ergänzte Vera Lux, die Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe. Von dem gesetzten Ziel einer Akademisierung von 20 Prozent sei Deutschland weit entfernt, sagte Messer. In den USA seien es bereits 80 bis 90 Prozent. Welche Kompetenzprofile nach ihrer Ansicht benötigt werden, zeigte die Wissenschaftlerin als Grafik in Form einer Pyramide: unten ein breiter Sockel, der für die Hilfskräfte steht. Darüber, zahlenmäßig etwas kleiner, die Gruppe mit dem Profil, das Pflegefachkräfte derzeit haben: dreijährige berufsschulische Ausbildung. Dann folgen Bachelor- und Masterabsolventen und in der Spitze promovierte Pflegekräfte. Statt wie bisher eine Ausbildung zu absolvieren und dann vierzig Jahre in diesem Beruf zu arbeiten, sollen Pflegekräfte lebenslange Karrierewege planen können.

„Bei Assistenzkräften haben wir derzeit weniger Mangel als bei Fachkräften“, untermauerte Professorin Messer ihre Argumentation. Wissenschaftlich lasse sich zudem nachweisen, dass die Versorgungsqualität leide, wenn man den Anteil der Hilfskräfte vergrößere, sodass der Anteil der Fachkräfte sinke. „Alleine die Erhöhung der Anzahl der Beschäftigten wird nicht reichen“, ist sie überzeugt. Finanzieren lassen sich die Akademikergehälter durch eine Umverteilung der Verantwortung von Ärzten hin zu Pflegekräften sowie durch eine intelligentere Nutzung digitaler Möglichkeiten. Für ihre Studenten, führte Messer aus, gelten derzeit höhere Prüfungsanforderungen als für angehende Ärzte: Sie müssen ihr Können am Patienten demonstrieren, begutachtet von vier Prüfern, darunter zwei Ärzte. Wenn man theoretische Prüfungen ermöglichen würde wie im Medizinstudium, würde sich auch hier Einsparpotential ergeben.
Die Akademisierung der Pflege würde auch einer Forderung der Gastgeberin Heike Sander, Landesgeschäftsführerin der Barmer-Krankenkasse, entgegenkommen: Sie wehrt sich dagegen, dass die Pflegeausbildung bisher von den Kassen mitfinanziert werden muss. „Man muss in den Steuertopf greifen“, forderte Sander. Zum Wandel des Pflegeberufs erklärte sie: „Alles geht nicht. Wir können nicht die gleiche Zahl von Ärzten wie bisher finanzieren, alle Krankenhäuser erhalten und gleichzeitig mehr Leistungen von Pflegekräften abrechnen.“ Sie schlug vor, dass jede Hausarztpraxis auch eine Pflegefachkraft beschäftigen solle. Auch in Pflegeheimen sollten Ärzte und Pflegekräfte mehr im Team arbeiten. Gesundheits-Staatssekretärin Christine Arbogast wies darauf hin, dass die Gesellschaft Veränderungen im Gesundheitssystem auch mittragen muss: „Dass wir einen Wust von Vorschriften haben, kommt aus dem Bedürfnis der Gesellschaft, alles abzusichern.“ Patienten sollten nicht immer gleich zum Anwalt gehen, wenn etwas nicht zu ihrer Zufriedenheit läuft. Ärzte müssten anerkennen, dass sie bestimmte Rechte – um nicht zu sagen Privilegien – nicht exklusiv haben. Und schließlich müssten die Niedersachsen akzeptieren, dass nicht jedes Krankenhaus vor Ort erhalten werden kann.
Dieser Artikel erschien am 18.02.2025 in der Ausgabe #032.
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