Die Frage klingt provokativ, in mehrfacher Hinsicht. „Ist Deutschland schon wieder der kranke Mann Europas?“, fragt die Friedrich-Ebert-Stiftung in Hannover. Gemeinsam mit dem „Forum Politik und Kultur“, dem DGB und dem Verdi-Bildungswerk hat die SPD-nahe Organisation den Saarbrücker Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger eingeladen, ein Schwergewicht dieser wissenschaftlichen Disziplin. Doch der Professor weist die Frage erst einmal empört zurück, um sie dann später doch zu bejahen. Was heiße hier eigentlich „wieder“? Schon vor rund 20 Jahren sei die These vom „kranken Mann“ aufgestellt und verbreitet worden, damals vor allem von konservativen Vertretern der Branche, allen voran Hans-Werner Sinn.

Bofinger sagt, er sei seinerzeit strikt dagegen gewesen. Die Erzählung vom angeblich überregulierten deutschen Arbeitsmarkt und einer zu bequemen sozialen Hängematte, die erst durch Gerhard Schröders Hartz-IV-Reformen ungemütlicher wurde, sei eine Legende gewesen. Die häufig so gepriesene Deregulierung des Arbeitsmarktes sei gar nicht das wirkliche Erfolgsrezept gewesen, vielmehr habe die innovative Kraft der Unternehmen den deutschen Export beflügelt und den späteren Aufschwung bewirkt. Aber Bofinger, der im vollbesetzten Saal der Landtagsgaststätte vor vorwiegend älteren Zuhörern spricht, will gar nicht in der Vergangenheit schwelgen, betont er. Die Gegenwart sei viel ernster.
Wenn nun wieder vom „kranken Mann Europas“ die Rede sei, ausgelöst durch eine These im „Economist“, dann habe das ja Gründe. Bofinger bestreitet den Befund gar nicht. In der OECD-Prognose für die Wirtschaftsentwicklung 2024 und 2025 schneide Deutschland ganz schlecht ab, schlimmer sei nur Argentinien dran. Deutschland habe heute die Wirtschaftsleistung des Jahres 2019 – während andere europäische Länder einen Aufschwung erlebten. Woran liegt das nun? Bofinger erklärt erst, woran es aus seiner Sicht eben nicht liegt. Die von konservativen Wirtschaftsprofessoren verbreitete These, die Unternehmen litten unter zu viel Bürokratie, zu langen Genehmigungsverfahren und zu komplizierten Vorschriften, überzeugt aus seiner Sicht nicht. Andere Länder wie die USA und Großbritannien hätten nicht weniger Vorschriften, und dort klappe gerade alles irgendwie besser.

Aus Sicht des Professors liegt der Grund eher in einer aktuellen Krise des „deutschen Geschäftsmodells“. Das basiere auf drei Säulen – dem Export, der starken Industrieproduktion und dem Automobilbau. Alle drei Sektoren hätten nun mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Export leide, da weltweit der Protektionismus wachse und der freie Handel zurückgefahren werde. Wenn wenigstens die Binnenkonjunktur einspringen könne, wäre es gut – aber auch das gelinge leider nicht. „Die Bauwirtschaft ist im freien Fall, und das wäre eigentlich die Riesenchance für den sozialen Wohnungsbau. Aber nicht einmal Bauministerin Klara Geywitz fühlt sich davon angesprochen.“ Die starke industrielle Basis in Deutschland leide unter den hohen Energiepreisen und dem Druck, die Transformation zur Dekarbonisierung zu schaffen. Gleichzeitig werde sichtbar, dass Europa bei der Digitalisierung rückständig sei, Deutschland besonders.
Dann ist da noch die Autoindustrie, und ihr bescheinigt Bofinger, sie habe „den Sprung zur E-Mobilität verschlafen“. Vor ein paar Jahren noch seien deutsche Autos der Exportschlager etwa in China gewesen, inzwischen aber hätten die Chinesen mit einer geschickten Strategie die E-Auto-Produktion an sich gezogen, perfektioniert und die Deutschen in den Schatten gestellt. Dies sei auch deshalb möglich gewesen, weil viele deutsche Wirtschaftswissenschaftler die Chinesen belächelt und nie richtig ernst genommen hätten. Ihre Arroganz habe die verhängnisvolle Entwicklung noch befördert. Bofinger fragt angesichts dieser bitteren Analyse: Was ist also jetzt zu tun?
An dieser Stelle wird die klassische linke Prägung des Wissenschaftlers deutlich. Es reiche nicht, den Kräften des Marktes zu vertrauen, der Staat müsse handeln. Und da der Staat zu wenig Geld habe, müssten neue Kredite her, folglich müssten die Regeln der Schuldenbremse gelockert werden. An dieser Stelle nennt Bofinger nun ein Vorbild, das in dieser SPD-nahen Veranstaltung ganz und gar unerwartet kommt – Franz Josef Strauß. Der habe einst als Landes- und Bundespolitiker mit massiven staatlichen Mitteln die Luftfahrtindustrie in Deutschland und insbesondere in Bayern aufgebaut. Er habe das getan, da er erkannt habe, dass der Staat einen Anschub für solche neuen Entwicklungen geben müsse und man nicht allein dem Markt vertrauen könne.
Hätte man Strauß vor 20 oder 25 Jahren als Vorbild genommen, sagt Bofinger, dann wären die hoffnungsvollen Ansätze der Solarindustrie in Deutschland damals nicht verendet, sondern mit gezielter staatlicher Subvention gestützt und weiterentwickelt worden. Einer, der ihm in der späteren Diskussion Recht gibt, ist der frühere niedersächsische Umweltminister Wolfgang Jüttner: „Ich habe 2001 einen Vertrag mit BP für den Bau einer Solarfabrik in Hameln auf dem Tisch gehabt. Doch dann hatte der Konzern kein Interesse mehr, da plötzlich günstiges Gas aus Russland für den deutschen Markt verfügbar war.“

Bofinger sagt, er vermisse in Deutschland gerade eine Diskussion darüber, welche wirtschaftliche Entwicklung das Land nehmen soll – und in welchen Bereichen der Staat mit gezielten Investitionen ein Zeichen setzen will. Stattdessen würden in der Wirtschaftswissenschaft immer noch diejenigen das Wort führen, die – ganz anders als einst Franz Josef Strauß – staatliche Zurückhaltung predigen und auf die Kräfte des Marktes setzen. Er nennt die Namen Clemens Fuest, Lars Feld und Moritz Schularick.
Für Bofinger sind nun, in klarer Abgrenzung zu den genannten Kollegen, folgende Schritte wichtig: Erstens brauche es den Mut der Politiker zu neuen Konzepten und staatlichem Engagement. Da zeige Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gute Ansätze, während Bundesfinanzminister Christian Lindner „im Einführungsbuch für Volkswirtschaft verhaftet“ bleibe. Zweitens müsse die Schuldenbremse gelockert werden, damit Deutschland mehr Kredite für Zukunftsinvestitionen aufnehmen könne. Hoffnungsfroh stimme ihn, dass verschiedene Kreise, auch der eigentlich konservative „Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministers“, sich inzwischen dieser Erkenntnis näherten.
Bofinger hat nun ein eigenes Modell für die Reform entwickelt – den Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt zu messen. Danach könne der Bund 80 Milliarden Euro an neuen Krediten aufnehmen anstelle von jetzt 14 Milliarden Euro. Das wäre ein sehr kräftiger zusätzlicher „Schluck aus der Pulle“. Die Frage, ob das denn nur gut sei, wird in der Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung nicht weiter erörtert, sie klingt nur in Nachfragen des Moderators Michael B. Berger an, findet aber im Publikum kein allzu großes Interesse.
Zum Ende kommt dann eine Botschaft, die im Saal des Leineschlosses auf allgemeine Zustimmung stößt. „Der kranke Mann kann gesund werden“, sagt Bofinger und fügt hinzu: „Das klappt aber nur, wenn er nicht dem Rezept von Doktor Lindner folgt.“ Das ist ein Signal aus einer sozialdemokratischen Veranstaltung in Hannover, das bei den Koalitionspartnern in Berlin interessiert aufgenommen werden dürfte.
