Das hervorstechende Merkmal an Olaf Lies sind seine stets wachen Augen und die Neugier, die fast unerschütterlich wirkt. In Landtagsdebatten hört der bisherige Wirtschaftsminister, der nun bald neuer niedersächsischer Ministerpräsident werden will, meistens sehr aufmerksam zu – und er nimmt die Botschaften der Gegner auf, um dann kurz darauf zu erwidern. Dabei spricht er oft schnell, und manche Beobachter bemängeln an ihm die Neigung, mit vielen Worten wenig Konkretes zu sagen. Einige beschreiben auch die Schwäche, dass die Aussagen von Lies mit Thesen beginnen, deren Ende dann manchmal nicht recht zum Anfang passen will.

Stets aufmerksam und fokussiert: Olaf Lies. | Foto: Link

Aber das sind schon die negativsten Aussagen, die man über Olaf Lies hört. Denn der 57-jährige Sozialdemokrat hat eine Eigenschaft, die nicht häufig anzutreffen ist in der Politik: Er genießt über Parteigrenzen hinweg hohe Anerkennung, gilt als Pragmatiker und als jemand, der den Argumenten der Gegenseite gegenüber sehr aufgeschlossen ist. Insofern ist Olaf Lies vom Politiker-Typus ein Abbild des früheren Bremer Bürgermeisters Henning Scherf, der als „Oma-Knutscher“ bekannt wurde. Auch Lies neigt dazu, Menschen zu umarmen und immer das Gemeinsame herauszustreichen. Diese Eigenschaft führt mitunter dazu, dass dem Sozialdemokraten mangelnde Härte und Konsequenz nachgesagt wird. Manche meinen, er sei „zu weich“ und neige zu sehr dazu, sich auf der Woge der Sympathie feiern zu lassen – statt auch mal um den Preis des Protestes eine unpopuläre Entscheidung zu treffen.

Dieses Urteil könnte indes übertrieben sein. Es gibt auch Beispiele dafür, dass Lies aneckt und unbeliebt wird. In der Landeshauptstadt Hannover wird etwa seit Jahren darüber gestritten, ob der Südschnellweg, der als Bundesstraße durch die Stadt führt, in dem bisher geplanten Maß saniert werden soll – einschließlich einer neuen Unterführung. Wie es die Art von Lies ist, bot er den Gegnern des Vorhabens einen Dialog an, führte Gespräche und lotete Alternativen aus. Doch schon bald mussten alle Beteiligten einsehen, dass die Planungen schon zu weit fortgeschritten waren, als dass es tatsächlich noch entscheidende Änderungen hätte geben können. Manche von denen, die das Projekt ablehnten, hielten Lies danach vor, er habe falsche Erwartungen geweckt und den Dialog nur vorgespielt. Die Lies-Vertrauten bewerten den Vorgang anders: Es sei nun mal das Wesen dieses Politikers, dass er Kritikern nicht aus dem Weg geht und Gespräche immer führt – auch dann, wenn die Verhältnisse scheinbar aussichtslos wirken. Insofern habe er auch hier noch eine Änderung versucht, wenn auch am Ende ohne Erfolg. Es gibt auf der anderen Seite auch viele gelungene Resultate dieses Lies-Politikstils. Der „Niedersächsische Weg“, ein Bündnis von Landwirtschaft und Naturschutz, geht auf ihn und die Christdemokratin Barbara Otte-Kinast zurück. In langen und vertrauensvollen Gesprächen gelang es, beide Seiten zueinander zu bringen. Dass im Hintergrund ein Volksbegehren drohte, hat den Prozess sicherlich beflügelt.

Bisher wurde Niedersachsen in den vergangenen zwölf Jahren von dem nüchternen Juristen Stephan Weil regiert – von einem, der bei jedem Schritt genau wusste, was rechtlich möglich ist und was nicht. Die kluge, ausgeruhte und meistens sehr belastbare Analyse der Verhältnisse war die Basis von Weils Arbeit. Am Ende kommt dabei das Bild eines gut verwalteten Landes heraus, wobei großes Gestalten dabei wohl zu kurz gekommen ist.

Der Diplom-Ingenieur aus dem Norden ist ein begeisterter Technik-Fan. | Foto: Link

Lies ist kein Jurist, er ist Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik. Man spürt bei ihm die Begeisterung für Technik, für das Funktionieren von komplizierten Systemen. Diese Systeme mit versuchten Änderungen an der einen oder anderen Stelle zu optimieren, das ist das Wesen von Elektrotechnikern. Womöglich folgt aus dieser konträren beruflichen Prägung im Vergleich zu Weil auch der andere Zugang zur Politik. Für Lies kommt es darauf an, das Problem zu erkennen, in die Tiefe vorzudringen und dann zu versuchen, einige Stellschrauben so zu drehen, dass eine Verbesserung dabei herauskommen kann. Der Jurist hat eher den anderen Zugang und einen anderen Ausgangspunkt der Überlegungen. Er geht von seinem gesetzten System der rechtlichen Möglichkeiten aus und versucht Lücken in diesem System zu identifizieren. Diese Lücken sollen dann einen Weg zur Lösung der Probleme ebnen.

Wie war nun der Weg von Lies an die Spitze? Nach seinem Studienabschluss an der Fachhochschule Wilhelmshaven wirkte er dort erst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann als Personalratsmitglied und schließlich als Vorsitzender des Personalrates. Erst spät, mit 35 Jahren, schloss er sich der SPD an. Die klassische Juso-Karriere mit allem, was dazu gehört, mit politischen Ränkespielen und Tricks, mit Machtkämpfen und Seilschaften, hat Lies nicht durchlaufen. Vielleicht ist er deshalb auch weniger Parteisoldat als andere in der SPD, er duldet und fördert in seinem Umfeld auch Talente, die nicht der SPD angehören. Im heimischen SPD-Unterbezirk Friesland wurde Lies 2005 Unterbezirksvorsitzender, dann Mitglied im SPD-Bezirksvorstand Weser-Ems. 2008 zog er das erste Mal in den Landtag ein – und schon bald ging es steil nach oben. Zwei Jahre später, 2010, löste Lies den glücklosen SPD-Landesvorsitzenden Garrelt Duin ab. Wieder ein Jahr später, 2011, erklärte Lies seine Bereitschaft zur Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl 2013. Hier kam ihm allerdings dann Stephan Weil in die Quere, der damals noch Oberbürgermeister von Hannover war. Im Mitgliederentscheid bekam Weil 53,3 Prozent, 46,1 Prozent sprachen sich für Lies aus.

Olaf Lies (2.v.l.) stellt 2017 einen Bericht zur Vergabeaffäre in der Landespressekonferenz vor. | Foto: Martin Brüning (Archiv)

Bis dahin galt Lies als aufstrebender, ehrgeiziger und durchaus kantiger Politiker. In einer scharfen Art und Weise ging er beispielsweise gegen den früheren Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke vor, der wegen verschiedener Vorwürfe, unter anderem der Untreue, in die Schusslinie geraten war. Für das Gefühl einiger älterer Genossen agierte Lies dabei sehr ruppig und wenig rücksichtsvoll. Die Niederlage, die er gegen Weil im Mitgliederentscheid 2011 erlitten hatte, bedeutete für Lies allerdings auch einen Imagewandel. Er wirkte milder, vermittelnder. Sein rascher Aufstieg war auch erst einmal gebremst. Er wurde 2013 neuer Wirtschaftsminister der rot-grünen Regierung von Weil, vier Jahre später wechselte er in das Amt des Umweltministers in der Großen Koalition, seit 2022 ist er wieder Wirtschaftsminister. Einige Krisen hat es gegeben, etwa bei Volkswagen oder bei der Meyer-Werft. Lies hat sie meistens still und ohne größere Konflikte lösen können. Eine Vergabe-Affäre zwang ihn 2017, seine damalige Staatssekretärin, die heutige Innenministerin, zu entlassen. Das Verhältnis zwischen ihm und Weil war über all die Jahre geordnet, Lies zeigte absolute Loyalität. Im August 2019 überlegte Lies, ob er der Politik Lebewohl sagt und neuer Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft werden soll. Es dauerte einige Tage, bis Weil und Lies damals erklärten, dass Lies dem Kabinett erhalten bleibt. Nicht wenige interpretieren dies als Zusage Weils an Lies, was die Nachfolge als Ministerpräsident angeht. Sollte es tatsächlich diese Zusage damals gegeben haben, so wird sie jetzt erfüllt.

Lies ist verheiratet, hat zwei Kinder und eine Enkeltochter. Seine Leidenschaft ist das Herumschrauben an alten Autos. Außerdem gilt er als Arbeitstier, der unermüdlich beschäftigt ist. Und man merkt, dass er die neue Aufgabe mit großem Respekt betrachtet. Das Leben als Ministerpräsident ist um einiges anders als das eines Ressortministers. Er traut es sich trotzdem zu.