30. März 2022 · 
Wirtschaft

Neue Erdgasförderung in Niedersachsen? Unternehmen sind dazu jedenfalls bereit

Die Erdgasbohrung Siedenburg Z11 (Landkreis Diepholz) fördert seit 1972 aus rund 3.000 Meter Tiefe erfolgreich Erdgas. | Foto: ExxonMobil

Wie sehr bewegt die Niedersachsen die drohende Erdgas-Krise, die eine Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine werden dürfte? Am Mittwoch haben zwei Institutionen interessante Sichtweisen auf die aktuelle Situation vorgestellt: Der Bundesverband Erdgas, Erdöl und Geoenergie (BVEG) lieferte eine Lageeinschätzung und erklärte die Bereitschaft, aus den deutschen Förderstätten – die vorwiegend in Niedersachsen liegen – noch mehr Gas als bisher zu fördern. „Allerdings soll das ausdrücklich auf der Basis der bisherigen Vereinbarungen geschehen“, betonte BVEG-Hauptgeschäftsführer Ludwig Möhring. Er hält indes eine Beschleunigung der bisherigen Genehmigungsverfahren für erforderlich. Ebenfalls am Mittwoch stellte der Technische Überwachungsverein Nord (TÜV-Nord-Gruppe) eine Forsa-Umfrage vor, die von einer wachsenden Bereitschaft der Befragten spricht, für die Nutzung erneuerbarer Energien auch Einschränkungen hinzunehmen. So meinten drei Viertel der 14- bis 29-Jährigen, dass die Deutschen es künftig akzeptieren, wenn ein Windrad oder eine Stromtrasse näher an Wohngebieten liegt. Der TÜV Nord sprach sich für einen „Nationalen Energierat“ aus.

BVEG-Hauptgeschäftsführer Ludwig Möhring | Foto: Screenshot

Gasversorger sehen Chance zu neuer Ausbeute: BVEG-Hauptgeschäftsführer Möhring erklärte, der kurzfristige Ausweg bei einem möglichen Importstopp von russischem Gas liege in verstärkten Importen von LNG-Flüssiggas. Obwohl Deutschland noch keine eigenen LNG-Häfen habe, sei das Pipeline-Netz „hervorragend“ angeschlossen an LNG-Häfen in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien. Weltweit seien genügend Gasvorkommen da, es gebe auch ausreichend Flüssiggas. Allerdings steige die weltweite Nachfrage rasant, das mache sich in den Preisen bemerkbar. Die europäische Erdgasförderung solle daher auch zur Preisdämpfung intensiviert werden. Mehrere Nordsee-Anrainer würden derzeit „alles in Bewegung setzen, zusätzlich Mengen zu heben“. Aus deutschen Förderstätten waren 2021 insgesamt 5,3 Milliarden Kubikmeter Erdgas gefördert worden – vor zehn Jahren seien es noch 12 Milliarden Kubikmeter gewesen, vor 20 Jahren sogar 20 Milliarden. Seit Jahren habe die Erdgas-Industrie hierzulande mit „Akzeptanzschwierigkeiten“ zu tun, und das umstrittene Fracking werde nicht gewollt, das habe der BVEG „verstanden und respektiert es“. Möhring will einen „Schulterschluss mit Berlin und den Bundesländern“ mit dem Ziel der „Sicherung und des Ausbaus“ der hiesigen Förderung. Das könne heißen, in bestehenden Lagerstätten neue Felder anzubohren. Diese Strategie erfordere aber einen „Mehraufwand an Material und Mensch“, die Genehmigungsverfahren sollten beschleunigt werden (Möhring verwendete den Begriff „Akzeleration“). Mindestens zwei bis drei Jahre bis zu einem Beginn einer erweiterten Förderung seien aber notwendig.

TÜV Nord fordert Nationalen Energierat: „Wir brauchen neue Ideen für die Energiewende. Versorgungssicherheit, Klimaschutz und bezahlbare Energie müssen immer zusammen gedacht werden“, sagte der TÜV-Vorstandsvorsitzende Dirk Stenkamp und sprach sich für die Einrichtung eines „Nationalen Energierats“ aus. Vorbild für dieses Gremium könnte laut dem Konzernchef die von der Bundesregierung eingesetzte „Kohlekommission“ sein, die 2018/2019 die Rahmenbedingungen für den deutschen Kohleausstieg festlegte. Mit den Worten „Ich halte es für eine gute Idee, alle Stakeholder an einen Tisch zu holen“, kommentierte der BVEG-Hauptgeschäftsführer Ludwig Möhring diese Idee. Er mahnte aber an: „Dieser Nationale Energierat sollte mehr als nur die Energieversorgung sichern. Wir dürfen den Klimaschutz jetzt nicht auf einmal hinten runterfallen lassen.“

Das TÜV-Nord-Vorstandsteam (von links): Jürgen Himmelsbach (Finanzen), Dirk Stenkamp (Vorsitz) und Astrid Petersen (Personal). | Foto: TÜV Nord/Schumann

Empfehlung für die Geothermie: Der BVEG-Hauptgeschäftsführer sieht ein großes Potenzial in der Geothermie, der Erdwärme. „Die Hälfte des Wärmebedarfs in den kommunalen Wohnungen ließe sich auf diese Weise decken“, sagte er. Der BVEG habe ein hohes Fachwissen im Bereich der Tiefenbohrungen und könne daher behilflich sein. Die Geothermie, die lange ein Schattendasein geführt habe, müsse nun die aktuelle Chance nutzen. Auch TÜV-Chef Stenkamp sieht großes Potenzial in der Erdwärmenutzung. „Geothermie ist nicht nur eine verlässliche, sondern auch eine regelbare Energieform“, sagte der promovierte Physiker und warnt davor, sich zu sehr auf Flüssiggas (LNG) zu verlassen. „Uns muss immer klar sein: Zur Druckverflüssigung von Gas braucht man schon mal sehr viel Energie.“ Außerdem bezeichnete Stenkamp die Kernkraft als „valide Option“. Für ihn kommt sowohl eine Laufzeitverlängerung der drei noch aktiven deutschen Atomkraftwerke in Betracht, als auch eine Reaktivierung der drei abgeschalteten AKW. „Regulatorisch wäre das relativ einfach möglich. Technisch auch. Es muss aber der politische Wille da sein“, sagt Stenkamp.

Opferbereitschaft der Bürger steigt: In der Bevölkerung steigt die Furcht vor Blackouts. 56 Prozent der Deutschen bewerten die Energiesicherheit als niedrig oder eher niedrig. Dagegen gehen nur 42 Prozent von einer hohen oder sehr hohen Versorgungssicherheit aus, wie eine Forsa-Umfrage im Auftrag von TÜV Nord ergeben hat. Da die Befragung genau eine Woche zurückliegt, hat sich das Stimmungsbild inzwischen vermutlich noch mehr verdüstert. Immerhin steigt angesichts der Krise wohl auch die Opferbereitschaft: 59 Prozent der Befragten glauben, dass die Deutschen künftig eher bereit sind, ein Windrad oder eine Stromtrasse in der Nähe ihres Wohnorts zu dulden. Unter den 14- bis 29-Jährigen sind es sogar 73 Prozent. Außerdem erwarten 57 Prozent der Befragten, dass der Krieg gegen die Ukraine die Energiewende in Deutschland beschleunigen wird. Und 87 Prozent rechnen mit steigenden Energiepreisen.

Rekordumsatz beim TÜV: Die TÜV-Nord-Gruppe ist trotz der Corona-Pandemie so erfolgreich wie noch nie. „Der Umsatz war der höchste überhaupt“, freute sich Finanzvorstand Jürgen Himmelsbach über das Geschäftsjahr 2021. Der Dienstleistungskonzern mit Sitz in Hannover steigerte seine Umsatzerlöse um 8,3 Prozent auf 1,37 Milliarden Euro. Das Geschäftsfeld Mobilität, für den der TÜV vor allem bekannt ist, spielt dabei eher eine untergeordnete Rolle. „Der größte Geschäftsbereich ist der Bereich Industry Services“, sagte Himmelsbach. Die Prüf- und Zertifizierungsleistungen für Unternehmen auf der ganzen Welt machen rund 35 Prozent des Umsatzes aus. Die weiteren Geschäftsfelder reichen von der Rohstoffsuche unter der Erde bis zur Beschaffung, Integration und Prüfung von Satellitenbauteilen.

Von Klaus Wallbaum und Christian Wilhelm Link

Dieser Artikel erschien am 31.3.2022 in Ausgabe #061.

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail
Alle aktuellen MeldungenAktuelle Beiträge
Innenministerin Daniela Behrens und Verfassungsschutzpräsident Dirk Pejrilstellen den Verfassungsschutzbericht für 2023 vor.  | Foto: Kleinwächter
Sind Klima-Aktivisten keine Verfassungsfeinde? Grüne preschen mit Reformvorschlag vor
18. Mai 2025 · Klaus Wallbaum3min
Muss die Adresse von Kommunalwahl-Kandidaten auf dem Wahlzettel stehen? Foto: GettyImages/no-limit_picture
Kommunalwahl ist am 13. September 2026
19. Mai 2025 · Klaus Wallbaum1min
Nach der Steuerschätzung: Heere spricht von einer „sehr ernsten Lage“ der Landesfinanzen
19. Mai 2025 · Klaus Wallbaum3min