Neu im Bundestag: „Anfangs hatte ich das Gefühl, unter Kontrollverlust zu leiden“
Die ersten Eindrücke waren für ihn schon sonderbar, berichtet Christos Pantazis. Als der frischgewählte Bundestagsabgeordnete zum ersten Mal in neuer Funktion den Reichstag betrat, spürte er schon das Besondere, das Außergewöhnliche. „Die Dimensionen sind komplett anders“, berichtet er. Die großen Räume, die gewaltige Bürokratie, die vielen Formalien. „In den ersten Tagen hatte ich das Gefühl des Kontrollverlustes“, bekennt er. Wie kann er selbst die Prozesse noch beeinflussen, noch steuern in einem Umfeld, das so sehr ein Massenbetrieb ist? Es dauerte eine Weile, bis Pantazis sich wenigstens etwas daran gewöhnte.
Der SPD-Politiker aus Braunschweig, von der Ausbildung her ein Arzt, kennt die Parlamentsarbeit schon, nur eben ganz anders. Er war von 2013 bis zum vergangenen Herbst Abgeordneter des Landtags, zählte zum Schluss als Vize-Fraktionschef und Sprecher der Gruppe der Braunschweiger in der SPD zu den Einflussreicheren der 137 Abgeordneten. Aber es waren eben 136 Kollegen, mit denen er zusammenarbeitete, in den Ausschüssen, in der Fraktion und im Plenum – und nicht etwa 735 wie jetzt im Bundestag. Der Unterschied, einer von 137 zu sein oder einer von 736, ist in der Politik schon gewaltig. Noch dazu, wenn man neu anfängt und sich als Greenhorn erst einmal hinten anstellen muss. Dann wirken die anderen Größenverhältnisse doch überwältigend, womöglich gar erdrückend und entmutigend.
Das Politikjournal Rundblick hat mit allen sieben bisherigen Landtagsabgeordneten gesprochen, die seit der Bundestagswahl einen politischen Neustart auf anderer, höherer Bühne wagten. Es sind neben Pantazis noch seine Genossinnen Dunja Kreiser aus Wolfenbüttel und Frauke Heiligenstadt aus Northeim. Bei den Grünen sind es der frühere Umweltminister Stefan Wenzel aus Göttingen, der Rechtspolitiker Helge Limburg aus Hannover und die Verkehrspolitikerin Susanne Menge aus dem Oldenburger Land. Die CDU hat nur eine „Überläuferin“ von der Landes- auf die Bundesebene, die Wirtschaftspolitikerin Mareike Wulf, die von Hannover in den Kreis Hameln gezogen ist, wo sie künftig als Städterin einen ländlichen Wahlkreis vertritt. Sie alle haben, nachdem die ersten gut vier Monate im neuen Parlament vorüber waren, über ihre Eindrücke und ersten Erfahrungen gesprochen. Manchmal schien es, als würden sie gern berichten, weil sich in ihnen doch etwas angestaut hatte. Oder weil die Erlebnisse schlicht überaus prägend waren. Oder aus Sehnsucht zurück?
„Der Bundestag ist eine komplett neue Welt“
Mareike Wulf zum Beispiel wunderte sich sehr über die langen bürokratischen Wege, den gewaltigen Apparat und die mangelhafte Digitalisierung. Das mache vieles sehr kompliziert, sagt sie. Pantazis spricht vom Bundestag als „einer komplett neuen Welt“, und dann erläutert er das, was er mit dem Gefühl des „Kontrollverlustes“ meint: Im Landtag war der politische Betrieb nach einigen Monaten Anlaufphase für ihn eingespielt, er wusste, wie man vorgeht. Wenn ein Anliegen im Wahlkreis zu klären war, ging er direkt zum zuständigen Minister – manchmal auch in Begleitung des Kollegen, der den Fachbereich betreute. Wenn etwas gesetzlich verändert werden musste und die Sache aufwendiger war, schloss er sich mit Vertretern anderer Fraktionen zusammen und tüftelte einen Plan aus, manchmal verknüpft mit Kompromissen – Entgegenkommen hier für Zugeständnisse dort.
So klappte das meistens ziemlich gut in einem Betrieb mit 137 Mitarbeitern. Persönliche Kontakte zu den Ministern, zu den wichtigen Leuten der anderen Fraktionen, zu den Staatssekretären und manchmal auch zu den Abteilungsleitern in den Ministerien prägten sich mit der Zeit, sie waren Gold wert. Pantazis meint das, wenn er vom Landtag als „quasi familiär“ bezeichnet. Mareike Wulf sieht es ähnlich: Wenn man im Landtag in einer Rede mal jemand von der Gegenseite angegriffen hatte, „ging man später zu ihm hin und sagte, dass das gar nicht so scharf gemeint war. So etwas geschieht im Bundestag, wo es viel anonymer ist, viel seltener.“
Überhaupt, die pure Größe und die Masse an Volksvertretern. „Es fällt sogar schon schwer, alle Mitglieder der eigenen Fraktion zu kennen“, meint Pantazis. Es sind 206 in der SPD. Klar, nach vier Monaten ist das unmöglich. Aber vielleicht schafft er es auch nach vier Jahren nicht. Denn die Bedingungen machen das Kennenlernen im Bundestag schwer, nicht nur wegen der Corona-Schranken. Das fängt schon an bei der Sitzordnung im Plenum. Die ersten Reihen sind für die führenden Leute reserviert, dahinter aber herrscht das Prinzip der freien Sitzwahl. Das macht es zunächst schon schwierig, mit der optischen Wiedererkennung in der räumlichen Anordnung zu arbeiten. Dann konzentriert sich die Arbeit auf die Fachausschüsse, und zwar weit mehr als im Landtag.
„Man spricht die Bundesminister nicht direkt an“
In Situationen, in denen ein Abgeordneter für seinen Wahlkreis eine Fachfrage klären muss, die den Arbeitskreis eines Fraktionskollegen berührt, kommt es nicht etwa zu direkten Gesprächen zwischen den Politikern – wie es im Landtag üblich wäre. „Nein, das klärt dann mein Büroleiter mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern, es kommt dann zu Kontaktaufnahmen zwischen den Büros der Abgeordneten“, erläutert Pantazis. Er selbst ist damit meistens gar nicht direkt befasst. Und wenn ein Minister eingeschaltet werden muss? „Man spricht die Bundesminister nicht direkt an. Für den Kontakt zwischen den Abgeordneten und den Ministerien sind die Parlamentarischen Staatssekretäre zuständig“, erläutert Frauke Heiligenstadt. Von denen gibt es gleich mehrere für jedes Ministerium.
Die Rolle des Bundestagsabgeordneten bietet damit nicht den Spielraum, den ihre Kollegen im Landtag haben. Pantazis immerhin ist froh, schon gleich in den begehrten Gesundheitsausschuss gekommen zu sein – als stellvertretender Sprecher. Heiligenstadt kann sich, wie im Landtag, um die Finanzpolitik kümmern. Wenzel ist glücklich, mit der Endlagerplanung befasst zu sein – und Limburg wurde sogar rechtspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Kreiser kann sich in die Sportpolitik vertiefen, sie ist außerdem noch im Innenausschuss. Wulf wirkt im Ausschuss für Arbeit und Soziales – und in dem für Familie. Auf alle warten große Aufgaben, aber doch ist es in Berlin irgendwie anders. „Der Landtagsabgeordnete ist näher dran an der Ausführung der Politik“, sagt Helge Limburg, der nachträglich begeistert ist von der Professionalität der niedersächsischen Landtagsverwaltung. „Was ich vermisse, ist das vertraute Miteinander, Besprechungen zwischendurch, Verhandlungen auf Augenhöhe“, meint Susanne Menge. Für sie ist die hohe Zahl an Abgeordneten ein großer Nachteil für die Demokratie. „Sich nicht zu kennen ist für politische Entscheidungsprozesse hinderlich, das schwächt die Demokratie.“
Was sie alle berichten, mehr oder weniger einheitlich, sind noch ein paar Punkte:
Gehäufte Arbeit in Sitzungswochen: In bestimmten Phasen ballt sich die Ausschussarbeit im Bundestag, dann dreht sich alles darum. „Da bleibt keine ausreichende Zeit, da viele Gremien parallel tagen“, klagt Menge. Wulf meint, die Abgeordneten könnten Gefahr laufen, in den zwei Sitzungswochen des Plenums „vollständig in den Berliner Politikbetrieb einzutauchen und dort womöglich auch unter zu gehen“. Es sei viel Selbstdisziplin gefordert, immer auch wieder die Rückkoppelung mit dem Wahlkreis zu suchen.
Große Toleranz gegenüber Beschimpfungen: Pantazis ist „erschrocken“, wie er sagt, Menge, Kreiser, Wulf und Heiligenstadt sind es auch. Aus dem Landtag kennen sie es, dass der Sitzungsleiter einschreitet, wenn ein Abgeordneter einem anderen „Lüge“ vorwirft oder auf andere Art provoziert. Im Bundestag werde viel mehr toleriert. „Ich bin in Sorge um die Würde des Hauses, gerade von vielen Abgeordneten der AfD wird der Bundestag lächerlich gemacht“, sagt Pantazis. „Es geht im Bundestag viel ruppiger zu“, erklärt Wulf.
Längere Wege in den Wahlkreisen: Manche ländliche Landtagswahlkreise sind schon groß geschnitten, die Bundestagswahlkreise aber umso mehr. Da fällt die Basisarbeit schwer, wie Dunja Kreiser erläutert: „Wenn ich von der westlichen in die östliche Ecke fahre, sind das schon mal 110 Kilometer. Trotzdem versuche ich, möglichst viele Termine vor Ort im Wahlkreis wahrzunehmen.“
Reden im großen Haus, die kaum Gehör finden: Ein Redner im Bundestag findet in den Sternstunden, den besonderen Anlässen, große Aufmerksamkeit. In der Regel aber sprechen die Abgeordneten vor lichten Reihen, da meistens nur die Mitglieder der jeweiligen Facharbeitskreise als Zuhörer dabei sind. Bei so großen Entfernungen kann aber kaum eine Beziehung zwischen dem Redner und seinem Auditorium entstehen. Die Masse der Abgeordneten kreuzt sich mit der Anonymität des Betriebs.
An einigen Stellen der Gespräche klingen Pantazis und Heiligenstadt ein wenig nachdenklich, und sie verwenden einen Begriff, den man von ihnen eigentlich gar nicht erwartet hätte. Sie sprechen von „meiner Heimat“, und sie meinen damit die Landesgruppe der Niedersachsen in der SPD im Bundestag, diese umfasst immerhin 27 Abgeordnete. „Heimat“? Das drückt ein Bedürfnis nach Geborgenheit aus, nach Vertrautheit und Zufriedenheit, also jenen Gefühlen, die sich im großdimensionierten Betrieb bei den Bundestags-Neulingen noch nicht eingestellt haben. Im Landtag, da waren die Sozialdemokraten noch unterteilt in Braunschweiger, Hannoveraner und Weser-Emser, oft standen sie dort gegeneinander. Jetzt aber, da halten die Niedersachsen zusammen. Bei den Grünen und der CDU ist es ähnlich. Nie sind sie vermutlich so sehr Niedersachsen wie hier, fern der Heimat in der Bundeshauptstadt.
Dieser Artikel erschien am 05.04.2022 in der Ausgabe #064.
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