Netzbetreiber und Unternehmen fordern eine neue Strategie fürs Stromnetz – und zwar schnell
Die Energiekrise verschont niemanden. Selbst einer der führenden Hersteller von Stromnetzbauteilen für Industrie und Handel ist von der Marktentwicklung kalt erwischt worden. „Die Kosten, die auf uns voraussichtlich hinzukommen, werden uns mit voller Breitseite treffen“, sagte Dennis Kampen von der „Block Transformatoren-Elektronik GmbH“ aus Verden beim Kongress „Industrie Digital“ in Hannover. Der Geschäftsleiter für Forschung, Innovation und Digitales kann es selbst kaum glauben: „Wir werden vielleicht im nächsten Jahr zum ersten Mal auf dem Spotmarkt einkaufen und die langjährige Verbindung zu unseren lokalen Stadtwerken verlieren. Das ist verrückt.“ Wer nämlich bei anderen Firmen für die richtige Stromspannung sorgen will, benötigt dafür selbst viel Energie.
Vor allem die Herstellung von Transformatoren, mit der das Familienunternehmen mittlerweile weltweit erfolgreich ist, ist stromintensiv. Die riesige Dachfläche des Stammwerks in Verden mit Photovoltaik voll zu bauen, scheidet als Option allerdings aus. Das gibt die Statik nicht her. Als Kostenbremse bleibt dem mittelständischen Elektronikteilehersteller daher nur eines übrig: strategische Digitalisierung. „Das wird die Mehrkosten auch nicht ganz decken, aber es wird uns helfen“, sagt der studierte Digitalisierungsexperte und Elektrotechniker. Die einfache Logik dahinter: Je schlauer ein System ist, umso weniger Energie verbraucht es und umso günstiger ist es.
Lies: „Wir müssen uns aus der Krise raus investieren“
„Wenn Sie nicht gerade Elon Musk heißen, ist Wirtschaftlichkeit der Schlüssel“, betont auch Uwe Döll, Leiter für den Bereich Energie bei der hannoverschen Beratungsfirma Cratos. Der Wirtschaftsstratege sagt den Unternehmern ganz klar: „Egal wie – Sie werden investieren müssen. Und sprechen Sie nicht nur über Strom, sondern auch über die Wärme.“ Ganz ähnlich lautet auch die Taktik des neuen niedersächsischen Wirtschaftsministers Olaf Lies, der sagt: „Wir müssen die Digitalisierung wieder in den Mittelpunkt rücken. Sie ist der Schlüssel für Nachhaltigkeit und Klimaschutz.“ Unter Digitalisierung versteht Lies dabei weniger den Aufbau von Funknetzen oder das Verlegen von Glasfaserkabeln, obwohl es hier auch noch einiges zu tun gebe. Er möchte mehr Intelligenz ins Stromnetz bringen. „Über Smart Grids haben wir schon vor fünf Jahren diskutiert. Wir sind aber nicht so weit gekommen, wie wir wollten“, räumt der ehemalige Energieminister ein. Für die kommende Legislaturperiode gibt Lies folgende Devise aus: „Die Zeit ist herausfordernd, bietet aber auch riesige Perspektiven. Es muss uns gelingen, uns aus der Krise raus zu investieren – mit Geld, aber auch mit Innovationen.“
Unternehmen geht das Geld zum Investieren aus
Das ist allerdings leichter gesagt als getan. „Viele Unternehmen haben eine echte Cash-Problematik“, weiß Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Niedersachsen-Metall. Die jüngste Befragung der Mitgliedsunternehmen habe ergeben, dass drei von vier Betrieben ihre Energiepreissteigerungen nicht an die Kunden weitergeben können. Die Folge: „Auf der Suche nach Kostensenkungspotenzialen werden die Investitionen nach allen Regeln der Kunst zusammengestrichen.“ Erst vergangene Woche hatte das Landesamt für Statistik berichtet, dass die niedersächsische Industrie im Jahr 2021 4,6 Prozent weniger investiert hat als im Vorjahr. Für 2022 rechnet Schmidt mit einem weitaus größeren Rückgang – insbesondere im Bereich der Automobilzulieferer. „Da sind fünf Prozent noch gar nichts, da reden wir von 20 bis 25 Prozent.“ Das Gebot der Stunde lautet für Schmidt deswegen: „Erwartungen stabilisieren“.
„Man kann über vieles meckern, aber ich denke, dass die Bundesregierung dabei den richtigen Weg eingeschlagen hat“, lobt er die Entlastungspakete für Wirtschaft. Kritik übt er dagegen an der Kreditwirtschaft. „Gerade wenn’s regnet, wird der Regenschirm eingeklappt“, ärgert sich der Unternehmervertreter über die steigende Zurückhaltung bei der Darlehensvergabe, die die Beschaffung von Fremdkapital umso schwieriger mache. „Wer investiert schon gerne in schrumpfende Märkte?“, fragt der Arbeitgebervertreter und äußert die Sorge, dass insbesondere die Unternehmen im ländlichen Bereich abgehängt werden könnten. Schmidt: „Wir brauchen hohe Erträge, wir brauchen gute Gewinne, um daraus auch investieren zu können.“
Tennet fordert Masterplan fürs Stromnetz bis 2040
Der größte Fürsprecher der Industrie ist in dieser Sache der Stromnetzbetreiber Tennet. „Wir haben vor allem im Küstenbereich sehr viele Anschlussanfragen von energieintensiven Unternehmen, die ihre Energieversorgung umstellen möchten. Wir haben aber auch große Probleme, diese Netzanschlüsse zu realisieren“, sagt Matthias Wantia, Tennet-Cheflobbyist für Niedersachsen. Obwohl das Unternehmen jährlich fünf bis sechs Milliarden Euro in den Ausbau seiner Höchstspannungsnetze investiere, komme der Netzausbau aufgrund der Genehmigungsverfahren nicht schnell genug voran. „Es werden immer neue Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien festgelegt, bevor man sich überhaupt um die Infrastruktur kümmert“, kritisiert Wantia und prophezeit: „Es gibt Regionen – und Süddeutschland gehört sicherlich dazu – die kriegen extreme Probleme, ihre energieintensiven Unternehmen zu halten.“
Für Niedersachsen, insbesondere für den Nordwesten des Landes, sieht Wantia dagegen ganz andere Vorzeichen: „Wenn irgendwo in Europa die Energiewende gelingt, dann hier.“ Von der Politik fordert er jedoch eine Strategie dafür, wie man mit dem Strom umgehen will, der zukünftig in Niedersachsen ins deutsche Netz gespeist wird und den Bedarf der niedersächsischen Stromverbraucher um ein Vielfaches übersteigen wird. Grundsätzlich sieht er drei Optionen: Man könnte den Strom einfach wie bisher durch das Netz durchleiten und dabei große Netzverluste in Kauf nehmen. Man könnte den überschüssigen Strom in Wasserstoff umwandeln, wodurch die Energie mit geringerem Wirkungsgrad gespeichert wird. Oder man könnte die energieintensive Industrie gezielt dort ansiedeln, wo der Strom produziert wird. „Hier muss man ein Optimum finden. Und man muss es eigentlich in den nächsten zwölf Monaten finden und bis in die 2040er Jahre festschreiben“, sagt Wantia und betont: „Wir müssen die Weichen jetzt stellen, damit die Unternehmen einen verlässlichen Rahmen haben, um zu investieren.“
Dieser Artikel erschien am 17.11.2022 in der Ausgabe #204.
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