Die aktuelle Corona-Debatte während der Sondersitzung des Landtags wurde am gestrigen Dienstag von Missklängen begleitet. Vor allem ein Satz in der Regierungserklärung von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) löste Widerspruch aus. Der Sozialdemokrat hatte darauf hingewiesen, dass Geimpfte künftig mehr Rechte beanspruchen könnten als Menschen, die noch nicht an die Reihe gekommen sind. „Halten wir es aus, dass große Gruppen unserer Gesellschaft im Alltag zweierlei Rechte haben?“ Er sehe darin keine bloße Neiddiskussion, sondern „eine Gerechtigkeitsdiskussion“, denn die noch nicht Geimpften hätten „ja nichts falsch gemacht“, fügte Weil hinzu. Daher werbe er dafür, die Tests zu intensivieren und die Rechte der Geimpften mit denen der negativ Getesteten gleichzustellen.
Doch Weils Haltung fand im Landtag unterschiedliche Reaktionen – auch in der Koalition von SPD und CDU. SPD-Fraktionschefin Johanne Modder erklärte: „Wir brauchen den Gleichklang von Geimpften, negativ Getesteten und Genesenen.“ CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer nahm Weils Hinweis zum Anlass für eine generelle Analyse. Er ging noch einen Schritt weiter und zeigte sich, auch mit Selbstkritik verbunden, mit der bisherigen Debatte über die Impf-Reihenfolge unzufrieden. Schon vor Weihnachten habe er eine breite öffentliche Diskussion über die Frage angeregt, welche Personengruppe vorrangig geimpft werden solle. Doch das Thema sei nicht aufgegriffen worden. Auch der Landtag habe es vorgezogen, intensiver über Hilfsprogramme für die Wirtschaft als über diese Frage zu sprechen – „obwohl die Impf-Priorisierung doch über Leben und Tod entscheidet“.
Was ihn aktuell ärgere, sagte Toepffer, sei die vor wenigen Tagen vorgestellte Festlegung des Sozialministerium auf die Personengruppen, die nun vom 17. und 31. Mai an geimpft werden dürfen. „Ich hätte gern gesehen, wenn der Landtag darüber mitentschieden hätte“, sagte der CDU-Fraktionschef. Man könne darüber streiten, welche Gruppen nun schon an die Reihe kommen dürften und welche noch nicht, welche „Relevanz“ also einige Gruppen hätten, die anderen in der Priorisierung abgesprochen werde. „Wir müssen prüfen, ob diese Impf-Priorisierung durchdacht ist – oder ob wir sie schleunigst anpassen oder wenn nötig ganz aufheben sollten.“ Toepffer sieht für die Zeit in einigen Wochen, wenn die Infizierten-Zahlen deutlich zurückgegangen sein werden, eine gefährliche „Impfmüdigkeit“ entstehen. Mangelnde Vorsicht könne dann die Rückkehr des Virus begünstigen. Auch deshalb könne das baldige Ende der vorgegebenen Reihenfolge sinnvoll sein.
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Stefan Birkner griff Weils Hinweis auf die „Gerechtigkeitsdiskussion“ auf und bescheinigte ihm „Gesprächsbedarf mit Innenminister Boris Pistorius“. Dessen Ressort habe zunächst die Haltung vertreten, das gesamte Innenministerium sei als Sicherheitsbehörde anzusehen und zähle zur „relevanten“ Gruppe bei den Impfungen. Birkner rügte auch die Entscheidung der Landesregierung, in niedersächsischen Urlaubsquartieren vorläufig nur „Landeskinder“ (also Bürger mit Erstwohnsitz in Niedersachsen) zuzulassen. „Das ist nicht zu erklären, da Menschen aus anderen Bundesländern keine höhere Ansteckungsgefahr mit sich bringen. Offensichtlich verstößt diese Regel gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes – sie sollte aufgehoben werden, bevor ein Gericht das anordnet.“
Julia Hamburg (Grüne) rieb sich an der Aussage in Weils Regierungserklärung, dass „die dritte Welle überwunden“ sei. Hamburg meinte, die dritte Welle sei „eben noch nicht vorbei“, während die Landesregierung bereits „völlig undifferenziert alles lockert“. CDU-Fraktionschef Toepffer nannte Weils Satz „mutig“, denn aus einer unbewältigten dritten Welle könne auch eine vierte werden. SPD-Fraktionschefin Modder gab zu bedenken, dass „wir uns immer noch in der Pandemie befinden“. Sie regte an, Niedersachsen möge sich auf Bundesebene „für eine befristete Freigabe der Impfpatente“ einsetzen – mit dem Ziel, dass in der Dritten Welt schneller und besser geimpft werden kann. Solange das Virus nicht weltweit beseitigt werde, sei es immer noch eine Gefahr. Noch habe sich die EU nicht dazu durchgerungen, in den WTO-Gremien aber sei eine Mehrheit von 164 Staaten erforderlich.