22. Jan. 2020 · 
Soziales

Modellprojekt in Braunschweig kümmert sich gezielt um wohnungslose Frauen

Als er 1991 angefangen habe, im Bereich der Wohnungslosenhilfe zu arbeiten, habe es nur die „ambulante Hilfe für alleinstehende wohnungslose Männer“ gegeben, erzählte Ulrich Friedrichs, Geschäftsführer der Zentralen Beratungsstelle Niedersachsen (ZBS), gestern in Hannover. Bei der Fachtagung mit dem Titel „Die Würde wohnungsloser Menschen“ berichtete er, dass Frauen damals in dem Bereich schlichtweg noch keine Rolle gespielt hätten. Dieser Umstand war wohl statistisch begründet, denn die überwiegende Mehrheit der Wohnungslosen waren Männer. Das ist auch heute noch so – doch der Anteil der Frauen steigt offenbar. Wie aus dem jüngsten Statistikbericht der ZBS hervorgeht, der vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde, werden zwar nach wie vor die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im Wesentlichen von Männern aufgesucht. Doch besonders bei den niedrigschwelligen Angeboten sei in den vergangenen Jahren ein immer größer werdender Anteil von Frauen unter den Hilfesuchenden festzustellen. „Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle den Blick aber auch auf die Frauen richten“, sagte deshalb gestern Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann (SPD) in ihrem Grußwort auf der Fachtagung. „Denn sie stehen selten im Fokus, wenn über Wohnungslosigkeit gesprochen wird.“ Man sehe es ihnen häufig nicht an, weil sie meist nicht dem Klischee entsprächen, sagte die Ministerin. Doch ihr geschätzter Anteil liege bei etwa einem Viertel. Die ZBS wird deshalb in diesem Jahr noch einen Sonderbericht zur Lage wohnungsloser Frauen vorlegen. Wenn in der Öffentlichkeit von Wohnungslosigkeit gesprochen werde, herrsche oft das Bild eines männlichen Obdachlosen vor, weiß auch Patricia Kirsch. Sie leitet seit August 2019 eine Beratungsstelle speziell für wohnungslose Frauen in Braunschweig. „In den letzten Jahren haben wir gemerkt, dass die Zahl der Frauen, die nach Hilfe suchen, zunimmt“, erklärte sie. Tatsächlich lag laut ZBS-Statistik der Frauenanteil bei Tagesangeboten im Jahr 2018 bei 28 Prozent und ist damit im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen. Insgesamt haben im vorvergangenen Jahr 5172 Frauen Tagesangebote aufgesucht. Prozentual lag ihr Anteil 2014 am höchsten, da waren 30,6 Prozent der Hilfesuchenden weiblich. Der absolute Rekord der vergangenen Jahre wurde 2016 erreicht, 5754 Frauen suchten in dem Jahr ein Tagesangebot auf. Bei den Basisangeboten, etwa bei einfacher Beratung oder Unterstützung bei Antragstellungen, lag der Frauenanteil in den vergangenen Jahren immer um die 25 Prozent. Doch das seien nur Zahlen über die Frauen, die tatsächlich Hilfsangebote aufsuchten und die kein Problem damit hätten, dass dort auch Männer sind, erklärte Kirsch gestern in Hannover, als sie ihr Modellprojekt vorstellte. Mit ihrem Angebot will sie nun auch diejenigen Frauen erreichen, die solche Anlaufstellen bislang nicht aufgesucht haben. Notwendig sei das besondere Angebot für Frauen auch deshalb, weil wohnungslose Frauen oft andere Bedarfe hätten als Männer. Frauen würden zum Beispiel oft verdeckt wohnungslos, berichtet Kirsch. Das bedeutet, dass sie nach dem Verlust ihrer Wohnung zunächst noch bei Bekannten unterkommen oder sich etwa in eine Zwangspartnerschaft retten. Dann leben sie zum Beispiel trotz eigentlicher Trennung noch mit ihrem ehemaligen Partner zusammen. Solche Formen des Zusammenlebens machten dann Frauen auch anfälliger für Missbrauch, für körperliche und sexuelle Gewalt, sagt Kirchs Kollegin Mona Bothe. Das Braunschweiger Modellprojekt zeige schon jetzt, wie wichtig es sei, Schutzräume für Frauen anzubieten. Die Beratungsstelle, die sich zentral in der Innenstadt befindet, verfügt auch über eine Wohnung, die von der Stadt Braunschweig zur Verfügung gestellt wird. Darin gebe es zwei Zimmer, damit Frauen in Notsituationen für ein paar Tage untergebracht werden können, sagt Kirsch. Anschließend müsse denn geschaut werden, wohin es weiter geht, erläutern die Sozialarbeiterinnen. Auf diese Weise sei es schon gelungen, Frauen direkt wieder in Wohnungen zu vermitteln und so auch die Inobhutnahme von Kindern zu verhindern.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #014.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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