Die Moderatorin Cosima Schmitt legt den Finger gleich zu Beginn auf die wunde Stelle. „Sagen Sie mal: Soll man mit Politikern der AfD reden und sie zum Grillfest einladen? Soll man sie sogar aufs Podium holen und ihnen eine Bühne bieten?“ Julian Nida-Rümelin, Philosoph aus München und einstiger SPD-Politiker, sagt dazu grundsätzlich ja: „Sofern sich AfD-Vertreter an die Regeln des respektvollen Umgangs halten, muss man sie in den Diskurs einbeziehen. Es wäre ungeschickt, den Gesprächsfaden abzubrechen“, meint er und fügt dann gleich hinzu: „Das gilt natürlich nicht für überzeugte Neonazis. Mit einem Björn Höcke würde ich auch nicht diskutieren.“ Die Abgrenzung, gibt der Philosoph später zu, fällt dann auch nicht ganz so leicht – das seien dann eher „fließende Grenzen“. Und in einem Land, in dem die AfD laut Umfragen auf Platz 1 liegt, sei die Gesprächsverweigerung zusätzlich problematisch.

Die Botschaft ist trotz seiner Einschränkung klar: Nida-Rümelin, der einst der erste „Kulturstaatsminister“ unter Kanzler Gerhard Schröder war, wirbt in Hannover für das Gespräch und den Meinungsaustausch. Seine zentrale These lautet: Die Demokratie ist bedroht, wenn die verschiedenen Lager keine Verständigung mehr finden, wenn das „common sense“ – übersetzt manchmal mit „gesundem Menschenverstand“ – fehlt. Daher sei allen Demokraten zu raten, den sachlichen Meinungsaustausch anzustreben. Einen eigenen Begriff wählt Nida-Rümelin dafür: den „öffentlichen Vernunftgebrauch“.
Dass der Philosoph aus München in einer gutbesuchten Veranstaltung von Friedrich-Ebert-Stiftung, Verdi-Bildungswerk und „Forum für Politik und Kultur“ auftritt, hat seinen Grund in einem besonderen Jubiläum: Vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant in Königsberg geboren, und der Kern seiner Lehre ist genau das, was Nida-Rümelin nun dringend rät: Die Menschen sollen sich ihres eigenen Verstandes bedienen, die Andersdenkenden anhören und deren Argumente einbeziehen. Kant habe die Idee einer republikanischen Ordnung auf der Basis des wechselseitigen Respekts und der gegenseitigen Anerkennung entwickelt. Dann, so habe er gemeint, würde auch der allgemeine Friede herzustellen sein. Dieser große Denker der europäischen Aufklärung, folgert nun Nida-Rümelin, ist heute aktueller denn je. Sein Rat sei nötiger als je zuvor.

Denn Nida-Rümelin zeichnet zunächst ein düsteres Bild der aktuellen Lage – bezogen auf die drei großen traditionsreichen Demokratien des Westens, die USA, Großbritannien und Frankreich. In den USA habe die Trump-Bewegung jeden sachlichen Diskurs torpediert, inzwischen sei die demokratische Zivilkultur beschädigt, auch die Demokraten hätten den öffentlichen Disput aufgegeben. „Ich habe Sorge, dass bei einem Sieg von Trump folgende Situation eintritt: Nach Ablauf von vier Jahren würden sich die Regierenden nach einer Abwahl die Macht nicht mehr nehmen lassen und einen Aufstand anzetteln.“
In Frankreich habe die rechtsextreme Marine Le Pen beste Chancen auf die Präsidentschaft, mit ihrem betont liberalen Auftreten ringe sie um Wähler der Mitte. Die Gefahr bestehe, dass nach einem Sieg die Unabhängigkeit der Gerichte schrittweise aufgehoben werde – „so, wie es in Ungarn, Polen und leider auch in Israel geschieht“. In Großbritannien bestehe schon eine dauerhafte Verfassungskrise, die nicht erst durch den Brexit ausgelöst worden sei. „Daneben kann von einer Weltordnung, die von Fairness im Umgang geprägt ist, leider auch keine Rede mehr sein“, sagt Nida-Rümelin. Später fügt er dann hinzu, dass er trotz dieser Analyse weiter Optimist bleibe – denn die Demokratie brauche den Optimismus, den Glauben an den Menschen als vernunftbegabtes Wesen. So wie es Kant immer gemeint habe.

In der Veranstaltung von Verdi-Bildungswerk und Friedrich-Ebert-Stiftung reibt sich der Philosoph aus München nun an einer Erscheinung, die in den vergangenen Jahren einen Wandel durchgemacht habe – vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums. Diese Richtung ist unter den Zuhörern zahlreich vertreten. Es geht um die „Cancel Culture“, also den Versuch bestimmter Gruppen, andere Meinungen und ihre Träger aus dem Diskurs auszuschließen. „Anfangs herrschte bei vielen Linken die Ansicht, das sei ja gar kein großes Problem und müsse hingenommen werden“, sagt Nida-Rümelin. In Hannover wurde eine weiße Musikerin, die Dreadlocks trägt, bei „Fridays for Future“ wieder ausgeladen, da ihr Auftreten angeblich anmaßend sei, eine kulturelle Aneignung.
Ebenfalls in Hannover wurde ein wissenschaftlicher Vortrag des Historikers Helmut Bley zum Kolonialismus abgesagt – da eine Initiative das Gespräch mit ihm als weißen Mann verweigerte. Inzwischen, sagt Nida-Rümelin, prangere auch die linke „taz“ solche Auftritte an und werbe für den Diskurs. „Das wäre vor wenigen Jahren noch nicht möglich gewesen.“ Zwar sei „Cancel Culture“ beileibe keine neue Erscheinungsform im politischen Diskurs, schon im römischen Reich habe es solche Versuche der Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten gegeben. Später seien solche Muster immer wieder und fast überall zu beobachten gewesen. Aktuell aber sieht Nida-Rümelin in solchen Erscheinungen eine große Gefahr. „,Cancel Culture‘ ist unvereinbar mit dem öffentlichen Vernunftgebrauch“ betont er und sagt deutlich: „Wenn heute sogar Veranstaltungen mit Alice Schwarzer boykottiert werden, weil sie angeblich frauenfeindlich sei, dann haben wir ein echtes Problem in unserer Gesellschaft.“

In der Diskussion bei der Friedrich-Ebert-Stiftung landet die Runde bald wieder bei der AfD. Kann es richtig sein, ihre Positionen auszugrenzen und ihre Vertreter nicht mehr in der politischen Debatte zu stellen? Nida-Rümelins Einstufung, mit den Vernünftigen unter den AfD-Leuten zu sprechen und mit den anderen nicht, stößt in der Veranstaltung nicht überall auf ungeteilte Zustimmung. Ein Teilnehmer fragt, ob das Verweigern der Debatte nicht Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremisten sei. Der Philosoph aus München sieht das im Grunde auch so. Innerhalb der AfD, sagt er, gebe es Strömungen, die sich Interviews der traditionellen Medien ganz verweigern wollten und nur auf ihre eigenen Kanäle setzen wollen. „Aber wenn die Leute irgendwann nicht mehr bereit sind, sich die Positionen der anderen anzuhören, dann wird es hochriskant.“
In der Veranstaltung wird bald das Thema geweitet. Wie konnte es zum Zulauf für die Demokratiefeinde kommen, will Arno Brandt wissen. Nida-Rümelin spricht von den Themen, die Menschen bewegen – von denen viele aber glaubten, dass die etablierten Parteien sie nicht genügend beachten. Die Migration spiele dabei eine große Rolle. Aber auch die Fehler in der Corona-Zeit werden vom früheren Kultur-Staatsminister angesprochen. Man spürt hier seine nachhaltige Verärgerung. Wissenschaftler seien während der Pandemie in eine Rolle gedrängt worden, normative Botschaften auszusprechen – obwohl sie doch allenfalls empirisch urteilen könnten und niemals die Politik ersetzen sollten. Was Nida-Rümelin außerdem ärgert, ist die Dominanz bestimmter Positionen im öffentlichen Diskurs, der sogenannte „Mainstream“: 2020 schon, bald nach den ersten Einschränkungen zum Schutz vor Ansteckung, habe eine Saarbrücker Professorin gewarnt vor den dramatischen Folgen der Schulschließungen für die Entwicklung der jungen Menschen. „Das hat aber damals kaum jemand gedruckt, obwohl die Daten klar waren. Aber niemand wollte es hören. Es passte einfach nicht in den Diskurs.“ Auf diese Weise, meint der Philosoph, nehme die Gesellschaft Schaden.