Angela Merkel sieht müde aus, ihre Augen sind klein, die Stirn ist feucht, der Stress nagt sichtbar an ihrer Statur. Regierungskrise hin und her, schlechte Umfragezahlen, viele Wahlkampftermine und dann die vielen internationalen Verpflichtungen in einer wahrlich weltweit alles andere als entspannten Lage. So war der Termin gestern Nachmittag in der hannoverschen Zentrale des Continental-Konzerns schon eine willkommene Ablenkung, ein Stündchen Auszeit von der großen Politik. Den „Bürgerdialog“ gibt es EU-weit, Spitzenpolitiker stellen sich der Diskussion mit kleinen Gruppen – und die Ergebnisse sollen später in Brüssel ausgewertet werden. Das kann wohl als Versuch bezeichnet werden, wenige Monate vor der Europawahl im kommenden Mai die Distanz zwischen Regierenden und Regierten zu verringern. Für Angela Merkel ist es an diesem Montag in der niedersächsischen Landeshauptstadt die Chance, mal wieder ganz ungezwungen und normal mit jungen Menschen zu sprechen.

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Wer nun aber eine unpolitische Diskussionsrunde erwartet hätte, sieht sich getäuscht. In einer guten Stunde kommen viele Probleme und Herausforderungen des vereinten Europa zur Sprache, wenn auch manchmal nur gestreift. Etwa 40 Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren sind gekommen, die an dem Programm „Experiencing Europe“ teilgenommen hatten: Für die Continental und einige andere Arbeitgeber, etwa Schaeffler oder DHL, haben sie Kurzpraktika im europäischen Ausland absolviert – und sind eingetaucht in ihnen fremde Welten.  Merkel wollte nun von ihnen wissen, wie das gelaufen ist, woran es gehakt hat, wie man Schwierigkeiten überwinden konnte, beispielsweise bei der Verständigung. Und die Jugendlichen fragten ihrerseits, was man ändern und verbessern kann, um den Austausch in der EU zu erleichtern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel im Gespräch – Foto: Continental

Zu Beginn kommt die Kanzlerin ein wenig ins Plaudern. 1961, kurz bevor die Mauer gebaut wurde, war sie als Sechsjährige noch einmal bei ihrer Großmutter in Bayern. Danach war erst einmal bis 1986 Schluss mit Besuchen in der Bundesrepublik, die für sie „immer ein Sehnsuchtsort“ gewesen sei – neben den USA. Als Jugendliche in der DDR sei sie gern nach Ungarn gereist („das Parlament dort erinnerte an das in London“) und nach Bulgarien („da konnte man nach Griechenland hinüberschauen“). Mit dem Rucksack ist die junge Angela Kastner damals umhergezogen, und weil der Umtausch von Ost-Mark in der Höhe begrenzt war, „konnte man damals nur von Tütensuppen leben“. Erinnerungen, die auch ihre heute jungen Gesprächspartner teilen?

Hochmoderne Werke in Ungarn und Rumänien

Mehrere Jugendliche berichten, wie gut es ihnen gefallen hatte bei Conti-Werkstandorten in Ungarn oder Rumänien, dass die Sprachhürden kein Problem gewesen seien, weil man sich auf Deutsch oder Englisch habe verständlich machen können. Aber immerhin, ein paar überraschende Erkenntnisse haben die Jugendlichen schon parat. In Ungarn und Rumänien habe er keine alten, zerfallenen Gebäude und Fabriken gesehen, sondern im Gegenteil hochmoderne, meint Kevin. „Das liegt wohl vor allem daran, dass die Werkstandorte dort neu sind und eben auch moderner“, vermutet die Kanzlerin.

David sagt, in einigen rumänischen Familien merke man schon große Armut, aber doch eine hohe Zufriedenheit. „Der Lebensstandard steigt, wenn Europa stärker zusammenwächst – und mit vielen Struktur- und Sozialfonds versuchen wir auch, Unterschiede abzubauen“, betont Merkel. Ein Mädchen will wissen, warum man gerade in Deutschland oft so missmutig auf die Fremden schaue, die hierhergekommen sind. „Wenn man miteinander spricht, kann man viele Vorbehalte abbauen – die allermeisten Menschen sind bereit zu kommunizieren“, antwortet die CDU-Chefin, die vor „Stereotypen“ warnt und betont: „Es gibt zum Beispiel auch in Deutschland ganz viele Leute, die unpünktlich sind. Ich kenne viele davon.“

„Brexit? Da mische ich mich nicht ein.“

Ein paar Reizworte kommen zur Sprache. Ob man noch einmal über den Brexit abstimmen lassen sollte? „Da mische ich mich nicht ein“, sagt Merkel, um gleich nachzusetzen: „Ich würde es auch bevorzugen, wenn die Briten in der EU blieben.“ Immerhin sei man doch „befreundet“. Ob man gerade in Ungarn und Rumänien, wo viele der jungen Conti-Mitarbeiter Erfahrungen sammelten, auf die Demokratie aufpassen muss? Merkel geht auf die Rechtspopulisten in Budapest und die Linkspopulisten in Bukarest, die dort die Gewaltenteilung und demokratische Grundwerte mit Füßen treten, nicht direkt ein, aber dafür indirekt: „Zur Demokratie gehört mehr dazu als die Wahl einer Regierung. Es geht um Minderheitenrechte, eine unabhängige Justiz und die unabhängige Presse.“

Ein Jugendlicher schildert von traumhaften Zuständen, wenn er in Rumänien telefonieren wollte – und überall einwandfreies Netz in Höchstqualität hatte. Merkel verspricht, hier werde man jetzt aufholen, räumt aber selbstkritisch ein: „Da kann man mal sehen: Wir denken immer, wir sind die Besten. Aber beim genauen Hinsehen merken wir: Das sind wir gar nicht.“


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Als sich der Abend dem Ende nähert, versucht Merkel noch, ein paar bisher schweigsame Jugendliche gezielt anzusprechen und zu ermuntern, darunter den dunkelhäutigen Ismail aus dem Sudan, über dessen Asylantrag noch nicht entschieden wurde, der aber selbstständig angefangen hat, Deutsch zu lernen – mit hörbar guten Erfolgen. Das nötigt der Kanzlerin Respekt ab: „Super, wie Sie das hinbekommen haben“, meint sie. (kw)