Die Unruhe in der SPD wird von Tag zu Tag größer – und am Dienstag war eine neue, wichtige Stufe erreicht. Als die beiden nordrhein-westfälischen Bundestagsabgeordneten Dirk Wiese und Wiebke Esdar ein gemeinsames Statement verbreiteten, wurde das in anderen Teilen der Partei als „Alarmzeichen“ gewertet. Wiese und Esdar, die für die beiden großen Flügel der „Parlamentarischen Linken“ und der konservativen „Seeheimer“ in der Bundestagsfraktion stehen, drückten ihr Unbehagen darüber aus, dass Kanzler Olaf Scholz mit dem schlechten Ansehen der gescheiterten Ampel-Koalition verknüpft sei. Und sie erwähnten das Thema der „besten Aufstellung zur Bundestagswahl“, um einen Satz später hinzuzufügen, dass sie „viel Zuspruch für Boris Pistorius“ hören. In der Parteigeschichte sind personelle Umbrüche in der SPD schon öfter von der Bundestagsfraktion ausgegangen. Wird das jetzt erneut so sein? „In dieser Woche wird der Wechsel vorbereitet“, sagt ein SPD-Mitglied, das ungenannt bleiben will.

Boris Pistorius in Hannover am Tag seiner Kür zum Bundesverteidigungsminister. | Foto: Wallbaum

Mehrere niedersächsische SPD-Funktionsträger, die mit dem Politikjournal Rundblick gesprochen haben, wollten nicht zitiert werden. Sie erklärten aber, dass nicht nur in der Bundestagsfraktion die Stimmung schlecht sei, sondern auch an der SPD-Basis – und dass die Verhinderung von Scholz als nächsten SPD-Kanzlerkandidaten jetzt „eigentlich nicht mehr aufzuhalten“ sei. Die Treuebekenntnisse zu Scholz, die wiederholt von den Parteichefs Lars Klingbeil und Saskia Esken ausgedrückt wurden, aber auch von SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich und von Niedersachsens Ministerpräsidenten Stephan Weil, seien „nicht überzeugend“. Nun komme es aber auf die „zweite Reihe“ an, die den Druck auf Scholz erhöhen werde, damit er seinen Verzicht erklärt. Scholz hingegen könnte sich trotz allem gestärkt fühlen von Botschaften wie der, die Weil am 17. November im ZDF abgab: „Sowohl Pistorius als auch ich sehen sehr, sehr gute Gründe dafür, dass Olaf Scholz die SPD in den nächsten Wahlkampf führt.“ Oder von der von Klingbeil, der am gleichen Tag in der ARD sagte: „Wir wollen mit Olaf Scholz in diesen Wahlkampf gehen. Da gibt es eine Klarheit, da gibt es auch kein Wackeln.“ Das war vor gerade mal drei Tagen.

Aufmerksam wird in der SPD-Funktionsträgerriege registriert, dass trotz dieser Aussagen von Weil, Klingbeil und anderen der Parteivorstand und das SPD-Präsidium auch am vergangenen Montag darauf verzichtet hatten, Scholz als Kanzlerkandidaten zu nominieren. Offenbar will niemand in den oberen SPD-Rängen als Königsmörder gelten. Als „Schicksalsdatum“ wird nun intern das Wochenende rund um den Totensonntag genannt. Am 25. November, nächsten Montag, könne das SPD-Präsidium – den vorherigen Verzicht von Scholz vorausgesetzt – Pistorius als Kanzlerkandidaten küren. In der „Wahlsieg-Konferenz“, die am 30. November stattfinden soll, würde Pistorius dann von jubelnden SPD-Anhängern gefeiert werden. In SPD-Kreisen wird auch schon an einer Erzählung für den Kanzlerkandidaten Pistorius gearbeitet. Dieser habe Regierungserfahrung – zwei Jahre als Bundesverteidigungsminister, also eng mit der Sicherheitspolitik verknüpft, davor mehr als zehn Jahre als niedersächsischer Innenminister. Er sei bodenständig und nah bei den Leuten, er sei beliebt und bringe die Botschaften auf den Punkt. In allen diesen Punkten, so heißt es, hebe er sich positiv vom regierungsunerfahrenen Unionskandidaten Friedrich Merz ab. Wenn das so kommt, dürfte damit auch die Leistungsbilanz von Pistorius als Innenminister in Niedersachsen plötzlich zu einem Thema des Bundestagswahlkampfes werden.

Wenn am 10. Dezember die SPD in der Stadt Hannover ihre Wahlkreiskandidaten aufstellt, könnte Pistorius schon als Kanzlerkandidat nominiert sein. Die eigentliche Entscheidung über die Kanzlerkandidatur fällt auf einem Bundesparteitag im neuen Jahr. Dieser wird dann schon so stark vom Wahlkampf geprägt sein, dass mögliche Kritik an Pistorius, wie sie von der Parteilinken kommen könnte, nicht mehr zu erwarten ist.