Lockdown und kein Ende: Jeder zehnte Industrie-Arbeitsplatz ist in Gefahr
Von Martin Brüning
„Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie“, wusste schon Ludwig Erhard vor mehr als einem halben Jahrhundert. Die Entwicklungen in der Corona-Pandemie sind ein weiterer Beweis dafür. Für die trübe Stimmung sind dabei nicht allein die wirtschaftlichen Einbrüche im vergangenen Jahr verantwortlich, vor allem die Gegenwart lässt die Erwartungen weiter sinken, und dabei kann sich innerhalb weniger Tage das Stimmungsbild wandeln. Der Verband Niedersachsenmetall hat die Stimmung bei den Unternehmen im Land abgefragt und festgestellt: Über den Jahreswechsel ist etwas passiert. Bei den 820 Unternehmen, die geantwortet haben und fast eine Viertel Million Beschäftigte repräsentieren, sind die Erwartungen für 2021 über die Feiertage noch einmal schlagartig gesunken. Warum? „Die Unsicherheit hat viel mit der Diskussion über einen Shutdown zu tun. Die Erwartungen haben sich über die Weihnachtsfeiertage deutlich eingetrübt“, erklärte Niedersachsenmetall-Hauptgeschäftsführer Volker Schmidt am Freitag, während im Hintergrund in der Politik schon wieder über weitere Lockdown-Verschärfungen diskutiert wurde. Die Umfrage-Zahlen bieten über die gesamte Bandbreite Anlass zur Sorge.
Dramatische Einbrüche 2020: In der Metall- und Elektroindustrie haben 70 Prozent der Unternehmen ein Viertel weniger Umsatz gemacht. In der Autoindustrie ist der Einbruch sogar noch drastischer. Bei drei Viertel der Unternehmen ging der Umsatz um 30 Prozent zurück. Gerade die deutsche Autobranche ist schon seit Jahren im Krisenmodus, die Produktion geht massiv zurück. 2017 wurden in Deutschland noch mehr als 5,6 Millionen Autos produziert, zwei Jahre später waren es eine Million weniger. Im Krisenjahr 2020 stürzte der Wert dann auf 3,5 Millionen und wird in diesem Jahr selbst im bestmöglichen Szenario höchstens auf knapp 3,8 Millionen klettern. Damit wäre man immer noch ein Drittel unter der Produktion von 2017. Schmidt warnte, diese Entwicklung halte eine Branche auf Dauer nicht aus.
Düstere Aussichten 2021: Die Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie gehen für 2021 davon aus, dass die Produktion um sechs Prozent steigen könnte. Dabei ist der Optimismus, wenn man das überhaupt so nennen kann, seit Dezember deutlich zurückgegangen. Im Dezember lag der Wert noch bei zehn Prozent. In der Autoindustrie sank der Wert von 13 auf neun Prozent. Noch deutlicher wird der Verlust des guten Mutes im Handel. Die Händler waren im Dezember noch für 2021 von einem Umsatz-Plus von 20 Prozent ausgegangen, inzwischen hofft man lediglich nur auf acht Prozent mehr.
Negative Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Investitionen: 55.000 Industrie-Arbeitsplätze könnten in diesem Jahr in Niedersachsen verlorengehen, das wäre mehr als jede zehnte Stelle im verarbeitenden Gewerbe. Schmidt sprach von einem „miserablen Szenario“. Dabei würden zwei Drittel der Stellen nicht wiederbesetzt, ein Drittel falle durch Personalabbau oder Insolvenzen weg. In der Autoindustrie wollen der Umfrage zufolge 40 Prozent der Unternehmen im Durchschnitt jede fünfte Stelle abbauen. Die Unsicherheit führt auch dazu, dass kaum noch investiert wird. Nahezu zwei Drittel der Metall- und Elektrounternehmen wollen weniger investieren als im Vorjahr. Und in 80 Prozent der Fälle fließen Investitionen in Rationalisierungen, nicht in Erweiterungen des Betriebs.
Für Schmidt hat die Politik eine klare Mitschuld am Attentismus in der Industrie und den düsteren Zukunftsprognosen. Zwar sei man derzeit mit einer außergewöhnlich schwierigen Situation konfrontiert, die Politik und Gesellschaft alles abfordere. Zugleich aber warnte der Niedersachsenmetall-Chef vor einem täglichen Alarmismus und „übertrieben wirkenden Kassandrarufen“. „Mitunter drängt sich der Eindruck auf, es herrsche ein politischer Wettbewerb um die Ankündigung der nächsten härteren Pandemie-Maßnahmen“, sagte Schmidt. Die Politik trage Mitverantwortung für Arbeitsplätze, und diese ließe sich nicht alleine durch Kurzarbeit und KfW-Darlehen abdecken. „Es geht um die materielle Existenz von Millionen von Arbeitnehmern“, mahnte Schmidt, den Unternehmen fehle die Planungssicherheit.
Was ist zu tun? Neben Schmidts Appell, dass mancher Politiker seine Maßnahmen-Forderungen zuvor stärker abwägen sollte, halten die Unternehmen jetzt vor allem die Abschaffung des Solidaritätszuschlags für Kapital- und Personengesellschaften für sinnvoll, darüber hinaus eine Ausweitung des steuerlichen Verlustrücktrags. Geht es nach ihnen, sollte man die Verluste steuerlich bis ins Jahr 2017 zurücktragen können. Die bisherigen Maßnahmen der Politik werden höchst unterschiedlich beurteilt. Niedersachsenmetall hat die Unternehmen gebeten, Schulnoten zu verteilen. Die mit Abstand besten Bewertungen (Durchschnittsnote 1,25) bekommt dabei das Kurzarbeitergeld. Es habe maßgeblich zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes und der Personalpolitik beigetragen und sei gut investiertes Geld gewesen, erklärte Schmidt. Fast eine glatte Fünf bekommt dagegen die befristete Senkung der Mehrwertsteuer, sogar der Handel hält nichts von dieser Maßnahme. Für Schmidt gibt es in der Geschichte kein einziges Beispiel dafür, dass eine solche Maßnahme jemals von Erfolg gekrönt war. „Damit hat man 15 Milliarden Euro Steuermittel verschossen. Die Senkung der Mehrwertsteuer hat große Chancen, als Paradebeispiel für die Verschwendung von Steuergeld in die Geschichte der deutschen Finanzpolitik einzugehen.“