Der Ohrensessel, in dem Karl Marx verstorben sein soll, und die Pistolen aus dem Duell, in dem Ferdinand Lassalle sein Leben ließ: In russischen Archiven lagern allerlei skurrile Devotionalien aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Für die Arbeiterbewegung heißt das nichts Gutes, wenn es dieser makabren Reliquien bedarf, um sich ihrer zu erinnern.
Ähnlich wie die Sozialdemokratie sind auch die großen Kirchen regelmäßig in Erklärungsnot, was ihre Rolle im 21. Jahrhundert sein könnte. Gestern gab es erstmal Entwarnung bei der alljährlichen Vorstellung der Statistiken der Bistümer und Landeskirchen: Zwar schrumpfen die Mitgliederzahlen bei Katholiken und Protestanten weiter. Jedoch ist dies mehr dem demografischen Wandel geschuldet als der Unzufriedenheit der Schäfchen. Denn die Austrittszahlen sind um knapp 18 Prozent zurückgegangen.
Das Interview, das meine Kollegen Klaus Wallbaum und Niklas Kleinwächter mit Niedersachsens Elder Statesman Sigmar Gabriel geführt haben, sollten Sie unbedingt lesen: nicht wegen des Smalltalk-Wissens über Marx‘ Ohrensessel, sondern wegen der klugen Analyse seiner Partei – kleine und größere Seitenhiebe inklusive. „Lernt etwas Anständiges!“, ruft der Ex-Vizekanzler sinngemäß dem politischen Nachwuchs zu. Und damit meint er nicht, Referent eines Politikers zu werden, den man irgendwann zu beerben hofft. Schließlich war Jesus auch Zimmermann und Petrus war Fischer, bevor sie sich anschickten, die Geschichte neu zu schreiben.

Womit wir wieder bei den Parallelen zwischen Kirche und Sozialdemokratie wären. Die SPD, betont Gabriel, stehe für Sicherheit. Ob sich diese Botschaft bei den Wählerinnen und Wählern schon herumgesprochen hat, darf bezweifelt werden. Immerhin – es gibt eine Idee. Die Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen indes scheinen sich in das Schicksal des Schrumpfens zu fügen:
Die Zahlen überraschen uns nicht
kommentiert die Präsidentin des hannoverschen Landeskirchenamtes, Stephanie Springer, trocken. Ihr Vize Ralph Charbonnier sieht einen Hoffnungsschimmer im Zusammenhalt während der Pandemie und in neuen digitalen Frömmigkeitsformaten.

Das ist ein Stück entfernt von dem rhetorischen Beil, das der Zimmermann aus Nazareth virtuos gebrauchte, wenn es um Visionen für die Zukunft ging. Wahrscheinlich würde der auch beifällig nicken, wenn der ehemalige Ministerpräsident Gabriel im Rundblick-Interview fordert, in der Politik mal ordentlich zu streiten.
Nicht gleich Streit, aber zumindest Diskussionen will die CDU auch auslösen. Dazu plakatiert sie niedersachsenweit ihren Vorsitzenden Bernd Althusmann im Großformat – obwohl der weder zur Bundestagswahl antritt noch irgendwo Bürgermeister, Landrat oder Regionspräsident werden will. Der Hashtag zum Althusmann-Starschnitt: #gemeinsamstark. Ob die Kommunalpolitikerinnen und -politiker vor Ort das auch so sportlich sehen?

Eine gepflegte Streitkultur jedenfalls erhöht die Chancen auf Aufmerksamkeit erheblich. Das merken die Kölner Katholikinnen und Katholiken, die sich von ihrem Kardinal distanzieren, ebenso wie die Theologinnen und Theologen, die gegen Homophobie aus dem Vatikan aufbegehren. Wie sich das in der Mitgliederstatistik niederschlägt, werden wir dann im nächsten Jahr um diese Zeit wissen.
Einen kultivierten Donnerstag wünscht Ihnen
Anne Beelte-Altwig