Die Zahl ist alarmierend: 2020 hat die Staatsanwaltschaft in Hannover in 4532 Fällen wegen Kinderpornographie ermittelt. Das sind fast dreimal so viele Fälle wie 2016. Die Maßnahmen, die man bisher zum Schutz von Kindern ergriffen hat, haben demnach nicht gefruchtet, schlussfolgert die CDU-Fraktion: weder die ausgeweitete Präventionsarbeit noch die Verschärfung des Strafrechtes. Wie kann man Kinder besser vor sexuellen Übergriffen und Misshandlung schützen? Die CDU möchte an einer legislativen Schraube drehen, die erstmal marginal erscheint: Sie möchte das Kammergesetz für Heilberufe ändern. Darin ist die ärztliche Schweigepflicht festgeschrieben. Bisher ist es so, dass Mediziner sich nur dann über einen Fall austauschen dürfen, wenn der Patient – oder im Fall von Kindern die Erziehungsberechtigten – ihre Zustimmung dazu erteilt haben.

Thomas Buck, Kinderarzt aus Hannover und Mitglied im Landesvorstand der Ärztekammer, wird misstrauisch, wenn er einen Impfpass sieht, in dem sich Stempel von acht verschiedenen Kollegen befinden. Oder wenn das Heft, in dem die verpflichtenden Vorsorge-Untersuchungen dokumentiert werden, eine Geschichte von „Ärzte-Hopping“ erzählt: Da ist das Kind mal beim Notdienst gewesen, dann bei einem anderen Kollegen. Wenn es dann auch noch verdächtige Befunde gibt, würde Thomas Buck gerne bei dem Kollegen nachhaken: „Bei diesem Kind steht der Arm so komisch. War das schon immer so? Gab es da ein Trauma?“
Ein Beispiel aus seiner Zeit als Berufsanfänger lässt ihn nicht los. Damals behandelte er als Assistenzarzt im Krankenhaus ein Kind mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma. Das kam ihm verdächtig vor und er schaltete die Rechtsmedizin ein. Doch die Fachleute sahen keine Handhabe, um die Darstellung der Eltern zu widerlegen. Ein Jahr später hat der Stiefvater das Kind ertränkt. Erst vor Gericht kam heraus: Fünf Mal war das Kind wegen der Folgen von Misshandlungen bei verschiedenen Ärzten – ohne dass einer der Kollegen einen Zusammenhang hergestellt hätte. „Das Kind könnte heute noch leben!“, sagte Buck bei der Anhörung im Sozialausschuss des Landtages. „Das passiert, wenn wir Informationen nicht verketten!“

Die CDU möchte die Schweigepflicht soweit lockern, dass „im Falle des Bekanntwerdens gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen“ ein interkollegialer Austausch gestattet ist. Bisher darf in einem solchen Notfall nur eine Institution einbezogen werden: das Jugendamt. Mit anderen „Geheimnisträgern“, also Arztkollegen, aber auch beispielsweise Lehrerinnen, Sozialarbeitern oder Psychotherapeutinnen, dürfen Ärzte über ihren Verdacht nicht sprechen. Tun sie es doch und werden angezeigt, können sie sich nur noch auf einen „rechtfertigenden Notstand“ berufen, den das Strafgesetzbuch vorsieht.
Für die Ärztekammer und Buck geht der Vorschlag der CDU in die richtige Richtung, aber noch nicht weit genug. Dem Kinderarzt wäre wichtig, sich auch mit anderen Berufsgruppen austauschen zu können. Doch dafür reicht eine Änderung des Kammergesetzes nicht aus, erklärte er: Hier müsste das Bundesrecht geändert werden. Und wenn es Gewalt in der Familie gibt, sind oft nicht nur die Kinder, sondern auch die Mütter betroffen. Doch damit er über einen Verdacht, der eine erwachsene Person betrifft, mit Kollegen sprechen könne, wäre ebenfalls eine Gesetzesänderung sinnvoll. Der Kinderarzt betonte auch: Die ärztliche Schweigepflicht ist ein hohes Gut – und die Grundlage dafür, dass sich Familien vertrauensvoll an einen Arzt wenden, der richtige Behandlungsansatz schnell gefunden werden und gelingen kann. „Wir wollen die Schweigepflicht nicht aushöhlen, sondern mehr geeignetere Regelungen schaffen“, sagt er im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick.

Die Vertreter der Kinder- und Jugendhilfe und der Psychotherapeutenkammer zeigten sich in der Anhörung skeptisch gegenüber einer Gesetzesänderung. Sie befürchten, dass Familien, die leicht unter Verdacht geraten, das Vertrauen zu der Berufsgruppe verlieren und in der Folge gar nicht mehr zum Arzt gehen. Prof. Olaf Lobermeier vom Landesjugendhilfeausschuss warnte davor, neben dem vorgeschriebenen Weg über das Jugendamt noch eine „Parallelstruktur“, also informelle Netzwerke unter Ärzten, aufzubauen. Allerdings mussten die Experten einräumen, dass aktuell die Möglichkeiten im Jugendhilfesystem nicht ausreichen, um allen Fällen gerecht zu werden. Lobermeier berichtete sogar, dass in einigen Jugendämtern bereits „Triage“ stattfinde, also ausgewählt werden müsse, welche Fälle bearbeitet werden können.
Gegenwind kam auch von Prof. Anette Debertin, Leiterin der Forensischen Kinderschutzambulanz an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie betonte, dass ihre Einrichtung seit 2010 für genau diese Fälle da ist, in denen ein Verdacht bestätigt oder ausgeräumt werden muss. Ärzte haben mehrere Möglichkeiten: Sie können einen Fall hier anonymisiert schildern und sich Beratung holen oder das Kind zur Begutachtung überweisen. Eltern, machte Debertin deutlich, kooperieren sehr wohl in solchen Fällen und entbinden die Ärzte von der Schweigepflicht. „Wir können das sehr schnell anbieten, auch am selben Tag“, erklärte sie. Es gibt eine Zweigstelle der Ambulanz in Oldenburg und die Möglichkeit von Video-Sprechstunden, so dass in Niedersachsen die Versorgung gesichert ist.

Aus der Sicht der Expertin würde es keinen Mehrwert für den Kinderschutz bringen, wenn die ärztliche Schweigepflicht aufgeweicht würde. Dazu rechnete sie vor: Rund die Hälfte der Fälle werden ihr aus Kinderkliniken überwiesen. Hier können sich die Ärzte in therapeutischen Teams beraten, sie sind untereinander von der Schweigepflicht befreit. Trotzdem ist offenbar der Beratungsbedarf hoch. Der kollegiale Austausch bringt nicht automatisch mehr Sicherheit. Und noch eine Zahl zog Debertin heran: In dreißig Prozent der Fälle können sie und ihr Team einen Verdacht ausräumen. Die überweisenden Ärzte haben also falsch gelegen. In der Anhörung schilderte Debertin, welche Spezialkenntnisse nötig sind, um Missbrauch zu diagnostizieren: Spurensicherung, Asservierung, Umgang mit einem Kolposkop – eine Art Mikroskop –, rekonstruktiv-biomechanische Kenntnisse und viele mehr. Wenn sich mehrere Ärzte ohne vertiefte Kenntnisse in der Kinderschutzmedizin austauschen, befürchtet Debertin, könne es eher passieren, dass sich ein falscher Verdacht verfestigt. Gegenüber dem Politikjournal Rundblick wollte sie sich dazu nicht weiter äußern.
Als Vorstandsmitglied der Ärztekammer ist es für Buck ein wichtiges Ziel, seinen Kollegen Rechtssicherheit zu geben. Zur psychischen und zeitlichen Belastung, die solche Fälle mit sich bringen, soll nicht noch die Angst vor strafrechtlicher Verfolgung kommen. „Kindeswohlgefährdung decken Sie in Ihrer Freizeit auf“, sagt Buck. Er will es seinen Kollegen möglichst einfach machen zu helfen. Dagegen hielt Debertin in der Anhörung: „Dass für Ärzte die Situation klarer werden soll, sehen wir hier eigentlich nicht im Fokus, sondern insbesondere die verbesserte Situation für Kinder.“ Aus ihrer Sicht ist vor allem Fortbildung nötig, damit Ärzte die rechtliche Situation und ihre Handlungsmöglichkeiten kennen. Hier setzt auch die Ärztekammer an, verspricht Buck: „Wir werden dieses Jahr eine große Kinderschutz-Veranstaltung machen.“