Annetraud Grote, die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, will Sonderwelten abschaffen
Die Rundblick-Redaktion bekommt gerne Besuch. Aber dass Annetraud Grote nicht in die Redaktionsräume an der Marktstraße kommen kann, müssen wir uns selbst zuschreiben – oder den Architekten, die die oberste Etage ohne Anschluss an den Fahrstuhl geplant haben. Wenn Annetraud Grote so etwas frustrierend findet, dann lässt sie es sich nicht anmerken. „Ich finde es auch schön, Besuch zu bekommen“, sagt die Landesbehindertenbeauftragte höflich, als drei Redakteure die Mikrofone, die Kopfhörer und das Mischpult für den Podcast in ihrem Büro im Sozialministerium aufbauen. Freundlich erwähnt sie trotzdem, dass man ja mal über einen Treppenlift nachdenken könnte, damit künftig alle Gäste zum Interview vorbeikommen können. Auf diese Weise argumentiert sie häufig. Mit entwaffnender Freundlichkeit stimmt sie ihrem Gegenüber zu: Ja, als Besitzerin eines alten Hauses weiß sie es zu schätzen, wenn Bauvorschriften unkompliziert sind. Ja, sie sieht die Not der Schulen, die mit den vorhandenen Ressourcen keine echte Inklusion leisten können. Dann, in ebenso verbindlichem Ton: „Das darf aber nicht zu Lasten von Menschen mit Behinderungen gehen.“

Seit einem Jahr vertritt Annetraud Grote jetzt die Anliegen von Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen. „Ich bin selbst ein Beispiel dafür, wie gut Inklusion ist“, sagt sie: als Frau, als Juristin, als Person mit Behinderung. Grote wurde mit einer Arthrogryposis geboren, einer Verkrümmung der Gelenke. Dass ihre Behinderung angeboren ist, kann ein Vorteil sein, erklärt die 57-Jährige nüchtern: „Ich musste mich nie an eine neue Lebenssituation gewöhnen.“ Bei den weitaus meisten Behinderungen ist das anders, denn die werden erst im Laufe des Lebens erworben.
„Wenn man weiß, dass ich zu einer Veranstaltung komme, versucht man es mir so gut wie möglich zu machen“, erzählt sie: Eine Rampe wird an die Bühne angelegt – auch wenn die manchmal so steil ist, dass sie Angst hat, mit dem Rollstuhl umzukippen. Ein Strohhalm liegt bereit, damit sie trinken kann. Sie würde sich wünschen, dass bei jeder Veranstaltung so gut für Menschen mit Behinderung vorgesorgt würde, auch wenn es dort um etwas ganz anderes geht als um Inklusion. Denn der Alltag ist oft voller Barrieren: Wenn irgendwo der Aufzug außer Betrieb ist, dann weiß sie schon, dass sie zu spät zu ihrem Termin kommen wird. Jetzt heißt es anrufen, sich entschuldigen – wehe, wenn dann noch im Stress das Handy herunterfällt. „Das muss man mit sehr viel guter Laune hinkriegen“, sagt sie.

In ihrem ersten Amtsjahr hat sich Annetraud Grote Zeit zum Vernetzen und Zuhören genommen. „Ich lerne viel von anderen Menschen mit Behinderungen“, sagt sie. Bevor das Rundblick-Team kam, hatte sie zum Beispiel Gäste, die sich für eine „Toilette für alle“ engagieren – und das nicht aus genderpolitischen Gründen, sondern damit der Partner oder ein Elternteil mit auf die Toilette kommen und helfen kann. „Wie viele Bereiche Inklusion betrifft, hätte ich mir vor meiner Amtszeit nicht träumen lassen“, gibt Annetraud Grote zu. „Das reicht von der Geburt bis zur Bahre.“
Ende 2024 hat sie gemeinsam mit Sozialminister Andreas Philippi den „Aktionsplan Inklusion 2024-2027“ vorgestellt. „Das ist die Leitlinie meines Handelns“, sagt sie. Der Entstehungsprozess begann schon vor ihrer Amtszeit mit einer großen „Inklusionskonferenz“, bei der zahlreiche Menschen mit Behinderungen ihre Anliegen einbringen konnten. Einiges davon wird bereits umgesetzt. So gab es eine Schulung für Frauenbeauftragte in Werkstätten. Sie informierten sich über sexualisierte Gewalt und Schutzkonzepte. „Nach einem Vormittag waren die Frauen so empowert, dass sie gesagt haben: Wir wollen gemeinsam stark auftreten“, berichtet Grote. So wurde eine Landesarbeitsgemeinschaft gegründet.
Das Thema Arbeit sieht sie als eines ihrer Kernthemen an. Sie will mit der Wirtschaft sprechen, was Menschen mit Behinderungen gegen den Fachkräftemangel tun können, und dafür sorgen, dass das Land selbst als Arbeitgeber endlich die vom Gesetz vorgeschriebene Quote erfüllt. Derzeit seien es nämlich nur 4,46 statt der geforderten 5 Prozent Kollegen mit Behinderungen. „Ich möchte eine Initiative ein bisschen mit anschubsen“, kündigt sie an – bescheiden im Ton, provokant in der Sache: Stellenausschreibungen des Landes, die sich ausschließlich an Fachkräfte mit Behinderungen richten. „Juristisch ist das abgesichert“, verspricht Grote. Davon würden Akademiker mit einer Behinderung profitieren, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben.

Inklusion im Arbeitsleben und in der Schule ist ein Menschenrecht, argumentiert sie. „Das haben uns die UN immer wieder ins Pflichtenheft geschrieben: Wir müssen weg von der Segregation!“ Ob heilpädagogische Kindergärten, Förderschulen oder Werkstätten: „Das sind alles Sonderwelten. Wir dürfen auf keinen Fall wieder dahin kommen, Menschen in Sonderwelten zu schicken“, fordert sie. Doch Beschäftigte, die einmal in einer Werkstatt gelandet sind, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, ist aufwendig. Der „Aktionsplan Inklusion“ hat sich hier bescheidene Ziele gesetzt: Bis Ende 2026 soll sich die Zahl der Werkstatt-Beschäftigten um jährlich ein Prozent verringern. Grote weiß um das Dilemma: „Gleich in meiner ersten Woche hatte ich die Werkstatträte zu Besuch“, erinnert sie sich. „Sehr, sehr beeindruckt“ war sie, wie differenziert sie die eigene Situation betrachten. „Einerseits sagen sie, es darf die Werkstätten nicht mehr geben. Andererseits fühlen sie sich in ihrer Welt wohl, safe, geborgen.“ Jeder Mensch, folgert Annetraud Grote, müsse ein Wahlrecht haben: Die Werkstätten müssen sich verändern, hin zu mehr Lohngerechtigkeit – und wer das möchte, müsse einen Weg heraus aus der Werkstatt finden.
Einige Niederlagen musste sie im ersten Amtsjahr auch schon verkraften: Bisher ist es ihr nicht gelungen, eines ihrer Lieblingsprojekte im Haushalt unterzubringen. Bei dem Projekt „Inklusive Bildung“ sollen Menschen mit – unter anderem intellektuellen – Behinderungen zu Fachkräften qualifiziert werden, die in Bildungseinrichtungen und Behörden für die Belange von Behinderten sensibilisieren. Grote lässt sich nicht entmutigen: „Ich bin wieder dran dieses Jahr!“, verspricht sie. Ebenfalls am Ball bleiben will sie beim Baurecht. Bauminister Olaf Lies hatte 2024 den neuen „Niedersachsen-Standard“ ausgerufen, mit niedrigeren Anforderungen an die Barrierefreiheit, an Aufzüge und Parkplätze. „Ich kann sehr gut verstehen, dass man schneller und günstiger bauen muss“, sagt Grote in ihrer diplomatischen Art. Nicht verstehen allerdings kann sie, dass jetzt die sogenannten „Typengenehmigungen“ für bestimmte Reihenhäuser einfach aus anderen Bundesländern anerkannt werden. „Wir waren in Niedersachsen schon relativ weit“, kritisiert sie. „Damit würden wir uns immer verschlechtern.“ Doch trotz ihres Einspruchs wurde die neue Bauordnung beschlossen. „Meine Bedenken wurden ernstgenommen“, zeigt sie sich versöhnlich. „Es wurde ein Artikel eingefügt, dass bis 2028 eine Evaluation des Gesetzes stattfinden soll.“
Das Thema Bauen beschäftigt sie auch privat: Ihre Wochenenden verbringt sie in der Nähe von Lüneburg, wo ihre Schwester das Elternhaus in Schuss hält und die „Schankwirtschaft“ der Eltern weiter betreibt. „Mit Theater, Musik, Lesungen und Best-Ager-Disco dient unser Saal sehr oft als Treffpunkt für die Dorfgemeinschaft“, erzählt Annetraud Grote. Sie und ihr Mann helfen regelmäßig mit. „Ich komme aus einer Gastronomie-Familie“, sagt sie lachend. „Seit meiner Kindheit bin ich es gewohnt, ständig etwas zu tun zu haben.“
Dieser Artikel erschien am 03.03.2025 in der Ausgabe #041.