
Auch auf der Suche nach groben Korridoren ist Einfühlungsvermögen gefragt: Schon jetzt kochen beim Schienenausbau zwischen Hamburg/Bremen und Hannover die Emotionen hoch. Dabei befindet sich das Projekt, das ursprünglich als „Y-Trasse“ gestartet war und sich inzwischen zum „Optimierten Alpha-E plus“ im Alphabet hochgearbeitet hat, immer noch in der Vorplanungsphase. Nach zehn Jahren nähert sich diese zwar allmählich dem Ende, weil der Bundestag noch in der ersten Jahreshälfte 2023 eine Entscheidung treffen soll. Doch die Situation ist verzwickter denn je. Während die niedersächsische Landesregierung einen Streckenneubau klar ablehnt, deuten alle Signale darauf hin, dass die Deutsche Bahn genau dies den Bundestagsabgeordneten empfehlen wird. „Es geht darum, Lösungen zu finden, die von einer breiten Mehrheit getragen werden und dadurch dann auch umsetzbar sind. Alpha-E hat die größte Akzeptanz“, begründete Wirtschafts- und Verkehrsminister Olaf Lies (SPD) kürzlich die Position von Rot-Grün, die auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist.

Doch der Verkehrsclub Deutschland (VCD) zweifelt an dieser Darstellung. Im „Dialogforum Schiene Nord“ sei sehr viel Wert darauf gelegt worden, möglichst wenig Bürger mit Baumaßnahmen zu belasten. „Fahrgäste, Güterkunden, aber auch Anwohner der Bestandsstrecken waren unterrepräsentiert. Dadurch wurde eine Variante mit zu geringer Leistung entwickelt“, kritisiert Martin Mützel, Vorsitzender des VCD Niedersachsen. Für den Umweltverband, der sich für eine klimaverträgliche Verkehrswende stark macht, ist klar: Alpha-E ist in seiner derzeitigen Form nicht haltbar, weil die Strecke zu wenig Kapazität hat und auch keine attraktiven Fahrzeiten ermöglicht.

Die Kommunen sind gespalten. „Ein Bahnstrecken-Neubau durch den Landkreis Harburg ist nicht akzeptabel. Dabei würden Naturräume und Siedlungsgebiete brutal durchschnitten und einige Orte inselartig zwischen Autobahn und Bahn eingeschlossen“, argumentiert der Harburger Landrat Rainer Rempe (CDU). Ähnlich äußern sich auch seine Amtskollegen aus den anderen Landkreisen, durch welche die Neubaustrecke laufen würde. Die Kommunen, die vom Bestandsausbau am meisten betroffen wären, melden jedoch ebenfalls Bedenken an. Für den Lüneburger Landrat Jens Böther (CDU) steht fest, dass ein Neubau entlang der Autobahn 7 wirtschaftlicher und zukunftsfähiger wäre. „Über diese Schienen muss der Bahnverkehr zwischen Hamburg und Hannover für die kommenden hundert Jahre rollen – das funktioniert weder auf der Bestandsstrecke mitten durch Lüneburg noch durch eine Umfahrung im dicht besiedelten Speckgürtel“, sagte Böther nach einem Treffen der Kommunen aus dem Landkreis Lüneburg mit der DB Netz AG.

Auch Lüneburgs Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch äußerte „erhebliche Bedenken“ gegen die Trassenvariante durch die Hansestadt. „Das Stadtgebiet wäre deutlich betroffen“, sagte die Grünen-Politikerin und befürchtet „erhebliche Eingriffe in Lüneburger Bausubstanz“. Im Gegensatz zu den Vertretern der Samtgemeinden Bardowick, Gellersen und Ilmenau lehnten Kalisch und Böther die Ausbaupläne allerdings nicht kategorisch ab. „Wir werden die Zeit nutzen, um alle bisher vorgelegten Informationen ausführlich zu bewerten und voraussichtlich im Januar 2023 eine aktuelle Positionierung des Rates der Stadt dazu herbeizuführen“, kündigte die Oberbürgermeisterin an. Und der Landrat versprach, dass sein Landkreis jede Streckenführung akzeptieren werde, „die in einem faktenbasierten, fachlich fundierten Verfahren zustande kommt – auch wenn er selbst betroffen sei“.

Während die Ausbaugegner eine sachliche und faire Prüfung einfordern, plädieren die Neubaugegner für mehr Bürgerbeteiligung. Die Vorstellungen der kommunalen Vertreter und der Bahnmitarbeiter beim Thema Öffentlichkeitsarbeit lägen weit auseinander, kritisierte Landrat Rempe nach der jüngsten Planungswerkstatt im Landkreis Harburg. Das Bundesverkehrsministerium als Auftragsgeber habe vor der Bundestagsentscheidung keine Öffentlichkeitsbeteiligung mehr vorgesehen, es sei nur noch eine Infoveranstaltung im ersten Quartal 2023 geplant. „Das ist völlig unzureichend“, ärgerte sich Rempe. Der VCD-Landeschef hält noch mehr Bürgerbeteiligung dagegen für nicht zielführend. „Leider ist Physik nun einmal keine demokratische Veranstaltung. Wenn etwas nicht klappen kann, dann klappt es nicht – auch dann nicht, wenn ein Gremium mehrheitlich beschlossen hat, dass es zu klappen hat“, kritisiert Mützel. Zwischen den Großräumen Hamburg und Hannover seien durchgängig zwei zusätzliche Gleise erforderlich. „Nur auf einem Teilabschnitt ein drittes Gleis zu legen, reicht vorne und hinten nicht“, sagt der Umweltlobbyist.

Auch Lüneburgs Landrat Böther hält es für notwendig, dass der Bahnverkehr zwischen den beiden Großstädten künftig auf vier Gleisen rollt – und zwar durchgängig. „Die sind wohl nur mit einem Neubau zu realisieren“, meint Böther. Der VCD spricht sich dafür aus, dass die Gleise dorthin kommen, wo sie die wenigsten Menschen belasten. Die Neubaustrecke an der A7 sei nicht nur dünner besiedelt, sondern auch kürzer. Die Deutsche Bahn hatte schon früh im Planungsverfahren ausgerechnet, dass beim Ausbau der Bestandstrecke bis zu 55.000 Wohneinheiten von Schallimmissionen betroffen sind. Durch den einen Schienenneubau entlang der A7 und B3 wären es nur höchstens 25.000. Die Neubaustrecke wäre außerdem 30 Kilometer kürzer und etwa zehn Jahre früher fertig, also vielleicht schon 2040. Auf der neuen Trasse könnten Züge außerdem durchgängig 250 Stundenkilometer schnell fahren und somit eine angestrebte Fahrzeit von 59 Minuten zwischen Hamburg und Hannover erreichen. Derzeit benötigt ein ICE mindestens 72 Minuten für die Strecke.