Falls Landtagspräsidentin Gabriele Andretta nicht wissen sollte, welche Tätigkeit sie ab Herbst ausübt, folgt hier ein sicherer Tipp: Sie könnte sich als Grundschullehrerin versuchen. Ihre pädagogische Eignung stellte die promovierte Sozialwissenschaftlerin am Dienstag im Landtag unter Beweis, als sie rund 120 niedersächsische Grundschüler im Forum des Landtags, dem Ersatz-Plenarsaal, zur zweiten „Kinderkonferenz“ begrüßte. Die SPD-Politikerin rannte mit dem Mikrophon durch die Reihen und sammelte wie bei einem Brainstorming die Gedanken der sieben- bis elfjährigen Kinder ein, die ums Diskutieren und Entscheiden rankten. Dabei blühte Andretta sichtlich auf, sodass ihr mehrere Teilnehmer hinterher eine „tolle Moderation“ bescheinigten. Und auch die Kinder waren voller Leidenschaft bei der Sache.

Landtagspräsidentin Gabriele Andretta begrüßt die Teilnehmer der zweiten „Kinderkonferenz“ im Landtag. | Foto: Wallbaum

Vor drei Jahren gab es schon einmal eine solche Konferenz im Landtag, die Pandemie zwang danach zu einer Pause. Wieder in der ersten Reihe saß diesmal der Sozialpädagoge Bekir Bulut aus der Regenbogenschule in Seelze (Region Hannover), der mit Fug und Recht als „Vater“ dieser Idee bezeichnet werden darf. 2005, als er noch an der hannoverschen Fridtjof-Nansen-Schule tätig war, entwickelte er ein Konzept: Aus jeder Klasse sollten zwei Kinder, im Idealfall ein Mädchen und ein Junge, für die „Kinderkonferenz“ benannt werden. Diese Vertreter kommen dann regelmäßig in der Schule zusammen und diskutieren bestimmte Fragen, die sich um den Schulalltag kreisen können, aber nicht müssen. „Der Ukraine-Krieg spielt eine große Rolle bei diesen Treffen“, meint Bulut.

Kinderkonferenz führt Kinder an Demokratie heran

Der Sinn dieser „Kinderkonferenzen“ ist, die Grundschüler an demokratische Entscheidungsprozesse heranzuführen und ihnen zu zeigen, wie sinnvoll und zufriedenstellend es sein kann, wenn man einen Kompromiss erreicht und diesen auch akzeptiert. Karsten Heilmann, Leiter der Fridtjof-Nansen-Schule, führt das von Bulut entwickelte Konzept konsequent weiter, alle zwei Wochen trifft sich seine Konferenz: „Grundschulkinder sind sehr sensibel und empfänglich für Stimmungen. Gleichzeitig haben sie eine große Fähigkeit darin, tragbare Lösungen zu finden.“ Als es Streit um die Nutzung des Sportplatzes vor der Schule gab, hatte die Kinderkonferenz einen Belegungsplan entwickelt – verbunden auch mit der klaren Ansage, dass bestimmte Gruppen zu bestimmten Zeiten dort nicht sein dürfen. „Das hat funktioniert“, berichtet Heilmann.


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Was im Kleinen klappte, sprach sich herum. Mindestens 50 Grundschulen in Niedersachsen sollen diese „Kinderkonferenzen“ schon eingeführt haben. Eine Auswahl der Vertreter ist am Dienstag in den Landtag eingeladen worden, um die demokratischen Abläufe noch einmal eine Stufe höher, auf Landesebene, einzuüben. Nun wäre es übertrieben zu sagen, dass die Kinder selbst die Themen bestimmt hätten – es geht um Rassismus, um Umweltschutz und um „Kinderrechte im Grundgesetz“. Weniger wichtig als die Inhalte sollte das Verfahren sein, das Erlebnis, zu bestimmten Fragestellungen einvernehmliche Thesen im Konsens zu entwickeln. An die Speerspitze der Bewegung setzte sich der hannoversche Grundschulleiter Frank Post, der die Kinder eindringlich auf den besonderen Wert des Parlaments hinwies: „In diesem Haus gilt das Wort, das ist besonders wichtig.“ Laut Post müssten auch die Grundschulen das Recht und sogar die Pflicht bekommen, Schülervertretungen zu bilden – so wie es in allen anderen Schulzweigen schon üblich ist. Das sei ein „Gebot der Gleichstellung“. Unterstützt wird das Anliegen vom Landesschülerrat, der zwei Vertreter als Assistenten für die Veranstaltung entsandt hatte.

Was aber denken denn nun die Grundschüler über demokratische Abläufe? Landtagspräsidentin Andretta konnte ihnen einiges entlocken: Worauf, fragte sie die Kinder, soll man denn in einer Diskussion achten? „Nicht anfangen, den anderen zu beleidigen“, sagt ein Mädchen. „Richtig, immer, wenn das geschieht, habe ich hier eine Glocke und greife ein“, erwidert die Präsidentin. „Man soll nicht die Schuld dem anderen geben“, sagt ein Junge. „Das klappt in der Politik nicht so gut“, meint Andretta. „Dem anderen zuhören“, ertönt es. „Auch sehr schwer“, meint Andretta. „Es akzeptieren, dass der andere anders denkt“, meint ein Mädchen, „den anderen ausreden lassen“, ergänzt ein Junge.

Weitere Tipps folgen: „Nicht treten!“, „den anderen nicht vollquatschen“, „nicht versuchen, dem anderen etwas zu versprechen, wenn er die eigene Meinung übernimmt.“ Dann meint ein Junge noch: „Man sollte sich auch entschuldigen.“ Andretta greift das gern auf: „Habt Ihr das gehört, liebe Abgeordnete?“ Sechs Parlamentarier sind als Gäste in der Konferenz dabei. Zugeschaltet wird anschließend noch der Kultusminister, auf einer großen Leinwand wird sein Grußwort übertragen – und wie der da vor der Kamera steht, im dunklen T-Shirt, erinnert Grant Hendrik Tonne an den ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyi, dessen Botschaften auf ähnliche Weise in verschiedene Parlamente gesendet worden waren. Tonne wünscht den Kindern viel Erfolg bei der Tagung.

Foto: Wallbaum

Draußen vor der Tür sinnieren später Bulut und Heilmann darüber, welchen Sinn diese Treffen eigentlich haben können. Sie sind sich einig, dass sich auf diese Weise ein ganz wesentlicher Teil von Demokratiebildung vollziehen kann: Die Schüler lernen schon früh, wie mühsam, aber auch wie ertragsreich und erfüllend die demokratische Meinungsbildung sein kann. Ein Geben und Nehmen kann die Verständigung erleichtern. Wenn sie dann älter werden, die Pubertät beginnt und allerhand Volksverführer von außen versuchen werden, den Parlamentarismus madig zu machen, haben sie hoffentlich schon Abwehrkräfte dagegen entwickelt – weil sie selbst erfahren haben, wie gut Parlamente funktionieren können.