Karl Ravens und die geschundene Seele der SPD
Der alte Herr sitzt im Rollstuhl, man hat ihn vorn ans Rednerpult geschoben. Jetzt redet er – und zwar wie immer: klar, schnörkellos, direkt. Er dankt seinen Weggefährten und kommt mit seiner tiefen Stimme recht bald auf die „Schrammen“ zu sprechen, die einem im Laufe eines langen Lebens hinzugefügt werden, „und die bis heute Schmerzen bereiten“. Schon ist er beim Kern: Das Jahr 1976, dieser „hinterhältige Vertrauensbruch bei der Ministerpräsidentenwahl“ habe ihm besonders weh getan. Im Saal ist es jetzt mucksmäuschenstill, alle rund 200 Gäste blicken gebannt nach vorn. Der alte Herr erinnert an die Situation vor 41 Jahren: „Es hat im ganzen Land gegärt wegen der nicht abgeschlossenen Kreisreform, aber wir meinten, einen Ministerpräsidenten neu wählen zu müssen.“ Diese Wunde von 1976 reiße jetzt wieder auf, „da wir die aktuellen Bilder vom persönlichen Missbrauch des Mandats sehen“. Er meint den Fall Twesten. Starker Applaus kommt auf, es ist ein bewegender, mitfühlender Applaus.
Die Niedersachsen-SPD hat zur Ehrung eines besonderen Jubilars eingeladen. Karl Ravens, der frühere Landes- und Landtagsfraktionsvorsitzende, ist 90 Jahre alt geworden. Den Festakt hatte man schon vor dem denkwürdigen 4. August geplant, als von vorzeitiger Auflösung des Landtags noch nicht die Rede war. Jetzt steht der Termin im Schatten dieses Ereignisses, oder, anders ausgedrückt, die Stimmungslage der Partei wird plötzlich treffend personalisiert. Denn Karl Ravens ist der letzte noch lebende SPD-Politiker, bei dem sich die leidvollen Erfahrungen von 1976 im Lebensweg tief eingraviert haben: 1976 war er Bundesminister, führender SPD-Mann im Bundestag mit Aussicht auf eine steile Karriere in Bonn, als die Partei ihn nach Hannover schickte, um im dritten Wahlgang gegen Ernst Albrecht anzutreten. Hatte es vorher Helmut Kasimier zweimal nicht geschafft, alle Stimmen der SPD/FDP-Koalition in geheimer Wahl zu bekommen, so hoffte die SPD es mit Ravens doch noch zu schaffen. Aber auch er unterlag, Albrecht wurde Ministerpräsident, die SPD musste daraufhin nicht nur 14 Jahre lang in der Opposition verbringen, sondern auch mit der Gewissheit leben, womöglich mehrere nicht erkannte Verräter in den eigenen Reihen zu haben. Ravens wurde dazu verdonnert, die bundespolitische Arbeit aufzugeben und in den Landtag zu wechseln. Dort blieb er ohne Fortune, verlor als Spitzenkandidat die Landtagswahlen 1978 und 1982.
Nun, als 90-Jähriger im Rollstuhl, spricht er sein politisches Vermächtnis. Viele frühere Minister und Abgeordnete sind gekommen, auch viele amtierende Regierungsmitglieder, allen voran Ministerpräsident Stephan Weil. Doch dieses Treffen ist mehr als das – es ist eine Art Therapiesitzung. Ravens, der mehr als alle anderen unter Verrat im Landtag gelitten hat, wirkt vital, witzig und aktiv – und das spendet Trost für alle, die nun meinen, durch einen neuen Verrat im Landtag an die Seite geschoben worden zu sein. Wie hatte Ministerpräsident Weil zur Begrüßung gesagt: „Es gibt momentan so ein paar Termine, die mir nicht ganz so viel Freude bereiten wie dieser.“ Später dann fast ein Freudscher Versprecher des Ministerpräsidenten: Ravens sei „als ehemaliger SPD-Landesvorsitzender und Oppositionsführer so etwas wie der Vorgänger von mir wie von Johanne Modder“, sagt Weil. Ist Modder also Oppositionsführerin? Eigentlich sind diese Rollen doch noch gar nicht verteilt, da nun die Neuwahlen anstehen. Aber weil der Twesten-Übertritt bei der SPD die alte Wunde von 1976 wieder aufgerissen hat, spüren viele Akteure heute vor allem den nicht verarbeiteten Schmerz von damals, nämlich den Verlust der Macht nach der Albrecht-Wahl. Twestens Schritt war dafür nur ein Auslöser. So wirkt auch Ministerpräsident Weil zuweilen so, trotz seiner kämpferischen Haltung und seiner Rührigkeit, als ob man ihn am 4. August schon in die Opposition geschickt habe – wie damals Ravens.
Vielleicht erklärt das auch die Schärfe, in der derzeit gerade SPD-Funktionäre auf den Übertritt einer Grünen zur CDU reagieren. Auf jeden Fall hat die Emotionalität, mit der die Sozialdemokraten Ravens an diesem Tag feiern, damit zu tun. Plötzlich ist die Partei ihm und seinem Schicksal besonders nah. Weil sagt, dass er Ravens, den Parteisoldaten, immer als „anständigen, gradlinigen und ehrenhaften Politiker“ kennengelernt habe, über den früher selbst die Jusos nie ein böses Wort verloren hätten. Petra Tiemann, die in der Nachfolgereihe von Ravens im Vorsitz des SPD-Bezirks Nord Niedersachsen steht, lobt seine „Verbundenheit zu den Menschen vor Ort“. Er sei ihr „großes Vorbild“.
Vor allem aber ist es Ravens selbst, der seiner Partei bei diesem Festakt ins Gewissen redet, als „Orientierungsfigur der SPD“, wie es Weil zur Begrüßung nannte, vielleicht als SPD-Urgroßvater. Sozialdemokrat zu sein, sei für ihn „eine Lebensauffassung“, sagt er und berichtet stolz, wie sich sein Ortsvereinsvorsitzender 1950 zwei Tage lang Zeit nahm für die Aufnahme des jungen Karl Ravens in die Partei. „Er hat mir sehr lange erklärt, was es heißt, zur SPD zu gehören. Es ist etwas Besonderes.“ Nun ist er 90 Jahre alt, davon 67 Jahre SPD-Mitglied, und rückblickend gab es zwei große Tiefpunkte seines politisches Lebens. Das erste war 1976 im Landtag, das zweite geschah zwei Jahre vorher, als Ravens Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeskanzleramt war, einer der engsten Mitarbeiter von Willy Brandt. Der Kanzler musste 1974 zurücktreten. „Egon Bahr, Holger Börner und ich mussten machtlos zusehen, wie damals alle Schuld auf Brandt geschoben wurde.“
Ganz zum Schluss noch ein Satz, der zeigt, wie sehr auch ein alter Haudegen wie Ravens noch mitfühlt, wenn die SPD, wie gegenwärtig in Niedersachsen, in so schwere See gerät: „Die alten Leute in der Partei sind Altholz, nicht Totholz. Es rauscht nicht an ihnen vorbei, was im Lande passiert.“ Die Gäste stehen auf und spenden Beifall, sehr lange. Es kommt vom Herzen. (kw)