Gerade erst ist sie vorüber, die Weihnachtszeit. Das ist die Periode im Jahr, in der viele Menschen das intensivste Erlebnis mit der Kirche haben – weil sie einen Festgottesdienst besuchen oder in den Medien eine Übertragung eines solchen sehen. Wie Parteien, Gewerkschaften und Verbände sind auch die Kirchen in einer Existenzkrise, die Zahl ihrer Mitglieder schrumpft stark. Was soll man tun? Wird womöglich die Abschaffung der Kirchensteuer, die bisher relativ stabile Einnahmen garantiert, in der Kirche einen „Ruck“ zur Verbesserung bringen? Die Rundblick-Redaktion diskutiert darüber in einem Pro und Contra.

Klaus Wallbaum (links) und Martin Brüning - symbolisch mit der hannöverschen Marktkirche in der Mitte

Klaus Wallbaum (links) und Martin Brüning – symbolisch mit der hannöverschen Marktkirche in der Mitte – Foto: isc

PRO: Mit dem System der Kirchensteuer tut man der Institution inzwischen keinen Gefallen mehr. Sie hat zu einer Saturiertheit der Organisation geführt, die mit den vielen Austritten überfordert ist und keine Kraft aufbringt, mit neuen Ideen Begeisterung auszulösen, meint Martin Brüning.

Dies wird hier ein sehr persönlicher Kommentar, weil dieses Pro und Contra aus einer Entscheidung entstanden ist, die ich zwischen den Jahren getroffen habe. Doch dazu später in diesem Text mehr. Die Kirche hat in meinem Leben immer eine Rolle gespielt, zumindest im Hintergrund. Drei Jahre evangelischer Kindergarten und 13 Jahre evangelische Schule prägen die ersten beiden Lebensdekaden. Mittwochs ging es vor der ersten Schulstunde nicht in die Schule, sondern erst einmal zur Morgenandacht in die Kirche.

Erst im Anschluss ging die Klasse dann zusammen in die Schule. Ein Berufspraktikum mit freier Auswahl gab es nicht, dafür ein Sozialpraktikum. Religion gehörte über die meisten Schuljahre als wichtiges Fach ganz selbstverständlich auf dem Stundenplan dazu. Und das galt auch für die Konfirmation, die absolut nicht in Frage gestellt wurde. Wer sollte auch schon auf die Idee kommen, die Konfirmation abzulehnen?

Nach dem Abitur betrat ich höchstens für Beerdigungen, Taufen und den Weihnachtsgottesdienst eine Kirche, letzteres auch mehr aus kulturellen Gründen. Denn zum Glauben hat mich der lange Weg in evangelischen Institutionen nicht geführt, er spielte immer eine untergeordnete Rolle. Wie bei vielen Eltern flackerte der Glaube nach der Geburt meiner Kinder wieder etwas auf, und im Hinterkopf tauchte ein paar Mal die Frage auf, ob es da nicht doch noch etwas über unseren Köpfen geben muss. Inzwischen beantworte ich aber die Frage, ob ich an Gott glaube, seit vielen Jahren mit: Bedauerlicherweise nein. Wenn mich aber nicht mehr der Glaube an die Institution der Kirche bindet, käme dafür nur noch die Qualität der Institution selbst in Frage.

Was passiert mit einer Institution, die jedes Jahr fünf Milliarden Euro einnimmt, ohne dass sich diese Summe in den Kirchenbänken am Sonntag noch nachvollziehen lässt?

Mit der Institution bin ich aber ebenfalls seit vielen Jahren nicht mehr glücklich. Dabei geht es mir nicht um die immer wieder vorgebrachte wutbürgerliche Kritik, die an meiner evangelischen Kirche geübt wird. Sie sei zu links, solle sich mal besser um den Glauben als um die Politik kümmern. Ich finde durchaus, dass Kirche sich nicht aus Politik heraushalten kann, und obwohl ich der Meinung bin, dass Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz mit seiner Problematisierung der privaten Seenotrettung im Mittelmeer recht hat, finde ich die Seenotrettungspläne der Evangelischen Kirche richtig und gut. Wer, wenn nicht die Kirche, sollte sich darum bemühen, jede einzelne Seele zu retten?

Das System der Kirchensteuer hat die Kirchen träge gemacht

Meine Kritik richtet sich vielmehr an eine saturierte Institution, die sich zudem im Land eine Stellung herausnimmt, die ihr nicht mehr zusteht. Die Trägheit des Systems hat vermutlich auch mit dem System der Kirchensteuer in Deutschland zu tun, mit dem man den Kirchen vermutlich inzwischen keinen Gefallen mehr tut. Wie würde es sich auf meine Arbeit in der Redaktion auswirken, wenn der Staat mir jedes Jahr einfach 100.000 Euro überweist? Was passiert mit einer Institution, die – durch das Finanzamt freundlicherweise organisiert – jedes Jahr fünf Milliarden Euro einnimmt, ohne dass sich diese Summe in den Kirchenbänken am Sonntag noch nachvollziehen lässt?

Man könne ja die Gottesdienste am Sonntag einmal zu unterschiedlichen Zeiten beginnen lassen und hier flexibler werden, lautete eine Reaktion auf die Kirchenaustritte des vergangenen Jahres. Na, wenn es nur das ist… Ich bewundere die Vitalität und das Engagement vieler Freikirchen, die sich um Mitglieder und Einnahmen ernsthaft bemühen müssen. Die Kirchen sind sonntags voll, es sind nicht nur die Generationen 60 plus und 15 minus (Konfirmanden) vertreten, und im Anschluss gibt es ein echtes Beisammensein einer Gruppe, die sich zusammengehörig fühlt. Wäre da nicht die Sache mit dem Glauben (siehe oben), wäre die eine oder andere Freikirche vielleicht für mich die bessere Alternative.

Selbstverständnis der Kirchen deckt sich nicht mehr mit Realität

Negativ stößt mir aber auch das Selbstverständnis der Kirchen auf, dass sich nicht immer mit der Realität deckt. Als vor ein paar Jahren die Dotationen, millionenschwere Zuschüsse der Länder an die Kirchen, in Frage gestellt wurden, war der Aufschrei riesig, als ob es angesichts der Kirchensteuereinnahmen ein Unding wäre, diese Zahlung politisch einmal in Frage zu stellen. Immer wieder wird auf die mit Sicherheit wertvolle Arbeit der Kirchen zum Beispiel im Bereich der Kindergärten hingewiesen. Aber wo Kirche draufsteht, ist finanziell nur zu einem Bruchteil Kirche drin. Das Gros der Kosten übernehmen die Kommunen. Auch hier klappt das mit der Trennung zwischen Kirche und Staat nicht richtig. Die Kirche steht gut da, der Staat darf zahlen.

Ob ein Austritt mehr den nötigen Wandlungsprozess, wie es in der Überschrift heißt, beschleunigen kann? Nein.

Meine Entscheidung fiel am Heiligabend, als die Konfirmanden, die in ihrem Alter noch nicht einmal Politikunterricht an der Schule haben, die Weihnachtsgeschichte mit aktuellem politischen Bezug aufführten. Viele Zuschauer haben an einigen Stellen gelacht, vielleicht ist das modern. Mich persönlich sprach es nicht an. Es war der Tag, in dem etwas zu Ende ging. Zum ersten Mal sprach ich auch nicht mehr das Vater unser mit, weil es mir nicht mehr ehrlich gemeint schien. Die Kirche ist für mich kein Automobilclub, in dem ich Mitglied bin, falls mal etwas passiert. Es braucht eine Verbundenheit, die bei mir nicht genügend vorhanden ist, um weiter Mitglied zu bleiben.

Es geht mir nicht darum, Steuern zu sparen, und ich bleibe meiner Kirche verbunden und wünsche ihr, dass sie die richtigen Entscheidungen trifft. Wie so vieles im Leben muss auch ein Austritt niemals endgültig sein, und ich kann auch nach dem Austritt noch in Schorlemmers „Was protestantisch ist“ lesen, in der Chrismon blättern und die zehn Gebote für eine gute Sache halten und danach leben. Dafür muss ich aber kein Behördenmitglied bleiben. Ob ein Austritt mehr den nötigen Wandlungsprozess, wie es in der Überschrift heißt, beschleunigen kann? Nein. Dafür müsste das System grundsätzlich in Frage gestellt werden, allen voran der seit gut hundert Jahren staatlich organisierte Steuereinzug, der die Kirche bequem hat werden lassen.

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CONTRA: Die Gefahr ist groß, dass mit der Schock-Therapie eines Wegbrechens der Kirchensteuer die Strukturen nicht verändert werden, sondern ruckartig zusammenbrechen. Das würde nicht nur viele Arbeitsplätze vernichten, sondern auch einen erheblichen kulturellen und gesellschaftlichen Schaden anrichten. Nötig sind stattdessen stringente Reformen in den Abläufen der Kirchenarbeit, meint Klaus Wallbaum.

Das schlimmste Übel, das die Kirchen heimsucht, ist die Gefahr der Selbstgefälligkeit. Da sind diejenigen, die sagen: „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Und neben ihnen stehen die anderen, die sagen: „Wir wissen, was der richtige Weg ist – der richtige Weg ist unser Weg.“ Beides ist gefährlich. Die Zahl der Kirchenmitglieder von evangelischer und katholischer Kirche in Deutschland nimmt ab, und das hat mehrere Ursachen.

Zum einen ist ein Trend zur Individualisierung zu nennen: Die Mitgliedschaft in Vereinen, Parteien und Organisationen lässt nach, viele Menschen scheuen feste Bindungen dieser Art. Die traditionelle Kraft der Kirchen nimmt auch ab, wenn schon die Kinder in den Elternhäusern früher übliche Rituale wie Kirchgänge nicht mehr erleben. Außerdem wird die Gesellschaft bunter und vielfältiger – auch mit Bezug auf religiöse Angebote. Das mag man beklagen – aufhalten lässt es sich in einer immer stärker globalisierten Welt kaum.

Manchmal hat man den Eindruck, dass die Kirchenoberen gern über nötige Veränderungen reden, es aber nicht ganz so ernst meinen – weil die Verhältnisse noch nicht so kritisch sind.

Wenn nun diese neuen gesellschaftlichen Realitäten auf kirchliches Personal trifft, das sich bei immer größerem äußeren Druck immer stärker auf vermeintliche überlieferte Gewissheiten zurückzieht und auf Kritik bockig oder trotzig reagiert, dann droht sich die Krise zu beschleunigen: Kirchenvertreter hier und irritierte Bürger dort entfremden sich, es kommt zu Kirchenaustritten – Gemeinden veröden, ehrenamtliche Tätige geben frustriert und überfordert auf.

Natürlich haben die Befürworter einer Abschaffung der Kirchensteuer in einem Punkt Recht: Die Kirchen würden dann garantierte Einnahmen verlieren, sie müssten um Unterstützung werben. Die langen Debatten über innerkirchliche Reformen würden abgekürzt werden – der Handlungsdruck würde das Handeln bestimmen, nicht mehr die nur organisatorische oder auch theologische Fachdiskussion.

Sicher hat die Kirche Reformdruck von außen nötig. Zu oft noch erleben wir Kirchengemeinden, in der aktive Vertreter sich als Weltverbesserer generieren wollen und ihre missionarische Aufgabe über den Dialog und die Seelsorge stellen. Das ist auch erlaubt, solange die Toleranz gepflegt wird und nicht bestimmte Gruppen im Namen Gottes ausgegrenzt oder ignoriert werden. Konkret gesagt: Natürlich gibt es auch Christen, die AfD wählen. Mit ihnen und ihren Ansichten muss sich die Kirche ebenso auseinandersetzen, wie es Parteien, Medien und Gewerkschaften tun müssen. Wer sie ausgrenzt, belegt nur die Arroganz und Abgehobenheit, die manche der Amtskirche vorwerfen.

Was die katholische Kirche anbelangt, sind die Hürden für den Priesterberuf ebenso antiquiert wie das Zölibat, die hin und wieder anzutreffende Verunglimpfung von Homosexuellen und die Geringschätzung der Laienarbeit. Sicher, hier führt jede Veränderung über Rom, und solche Schritte dauern. Das hat man gerade in den vergangenen Monaten in der Debatte über den „synodalen Weg“ gesehen. Doch Druck in Richtung Reform und mehr Transparenz, gerade angesichts von Missbrauchsfällen, ist nötig. Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer gibt hier ein bundesweites Vorbild. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Kirchenoberen gern über nötige Veränderungen reden, es aber nicht ganz so ernst meinen – weil die Verhältnisse noch nicht so kritisch sind, dass die Reformkräfte die Beharrungskräfte in den Schatten zu stellen vermögen.

Ohne Kirchensteuer würden viele Kirchen aufgeben

Soll man der Kirche den staatlichen Geldhahn zudrehen? Das wäre fatal, viele Kirchengemeinden würden aufgeben – vermutlich vor allem in ländlichen Gegenden, in denen sich heute schon viele abgehängt fühlen. Das darf nicht geschehen. Hier müssen weiter Altennachmittage und Jugendclubs angeboten werden. Wer, wenn nicht die Kirche, sollte das tun? Schließlich geht es auch um die Pflege des Kulturgutes, um viele alte Kirchengebäude, die ohne aktive Kirchengemeinden dem Verfall preisgegeben wären – und um ein Gemeinschaftsgefühl, das vielerorts noch um die Pastorin oder den Pastor kreist und um ihre oder seine Mitstreiter.

Nicht zuletzt stehen die Kirchen auch für die überlieferte christlich-abendländische Kultur, die über Jahrhunderte dieses Land geprägt hat und stärker als vieles andere den „sozialen Kitt“ in der Gesellschaft liefert. Es ist allemal besser, wenn die Kirchen diese Rolle wahrnehmen – als wenn es radikale politische Gruppierungen tun, die eine Lücke nutzen, die der Zusammenbruch der Kirchen hinterlassen wird.

Deshalb sollte es bei der Kirchensteuer bleiben – gepaart mit einer weit größeren Entschlossenheit der Kirchen, ihre Abläufe und ihr Selbstverständnis in Frage zu stellen.

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