Justizministerin mahnt: Kümmert Euch rechtzeitig um einen Betreuer!
Erst kam sie schleichend, die Vergesslichkeit. Wo ist denn nun schon wieder die Brille? Wie heißt nochmal meine Nachbarin, mit der ich gestern gesprochen habe? Und was gab es eigentlich heute zum Mittagessen? Harmlose Fragen. Das liegt am Alter, dachten sie. Doch irgendwann wurde das Verhalten der alten Frau seltsam. Sie vergaß, worüber man wenige Minuten vorher noch gesprochen hatte, sprach Bekannte mit den Namen von Freunden an, die längst verstorben waren, und fing an, Lebensmittel zu horten. Als sie schließlich mitten in der Nacht das Haus verließ, mit der Begründung, sie müsse zur Schule fahren, begriffen ihre Kinder, dass die alte Frau nicht nur vergesslich war. Sie litt an der Nervenkrankheit Alzheimer. Nie wieder würde sie für sich selbst sorgen können, weder für ihr körperliches Wohlbefinden, noch für ihre Rechte und Pflichten als mündige Bürgerin. Das musste nun jemand anderes für sie übernehmen. Aber wer?
Betreuung im Ernstfall immer seltener geregelt
Es ist ein Beispiel für Fälle, wie sie sich nahezu täglich ereignen. 1,26 Millionen Menschen leben in Niedersachsen, die 70 Jahre oder älter sind. 160.415 von ihnen leben in Pflegeheimen oder werden von einem ambulanten Pflegedienst versorgt. Doch nicht nur Alterskrankheiten können verhindern, dass ein Mensch plötzlich nicht mehr für sich sorgen kann. Auch ein schwerer Unfall, eine Erkrankung oder eine Psychose können es plötzlich undenkbar machen, sich um einfache Dinge wie eine Banküberweisung oder das Telefonat mit der Versicherung zu kümmern. In diesen Fällen muss es einen Betreuer geben, der die Person rechtlich vertritt und in ihrem Interesse handelt. Doch weil immer seltener klar geregelt ist, wer sich im Fall des Falles um den Hilfsbedürftigen sorgt, werden immer öfter die Betreuungsgerichte bemüht. Und auch die Kosten für zugewiesene Betreuer steigen stetig an. „Deshalb appelliere ich an jeden Bürger: Treffen Sie Vorsorge und benennen Sie jemanden, der sich im Ernstfall um Ihre Angelegenheiten kümmert. Das macht es für alle Beteiligten einfacher“, sagt Justizministerin Barbara Havliza.
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Das Betreuungsgesetz, wie es heute gilt, trat 1992 in Kraft und verlangt, dass Volljährige im Falle von Krankheit oder Behinderung einen Betreuer haben, der sie unter gerichtlicher Aufsicht nach außen vertritt. Das Gesetz hat die frühere Vormundschaft über Volljährige und die sogenannte „Gebrechlichkeitspflegschaft“ abgelöst. „Es ging darum, die Hilfsbedürftigen nicht mehr so schnell zu entmündigen und ihnen noch so viel Selbstbestimmung zu lassen wie möglich“, sagt Havliza. Denn beim Betreuungsgesetz ist der Betreuer verpflichtet, im Sinne des Betreuten zu handeln. Auch die Geschäftsfähigkeit bleibt bestehen. „Wenn die bettlägerige 83-Jährige sagt, dass ihr Telefonvertrag bei der Telekom bleiben soll, obwohl der Betreuer findet, der Vertrag sei viel zu teuer, dann wird der Vertrag nicht geändert“, sagt Havliza. Dass es in der Praxis jedoch nicht immer einfach ist, im Sinne der Betreuten zu handeln, weiß die Justizministerin aus eigener Erfahrung. Auch sie hat mehrere Jahre als Betreuungsrichterin gearbeitet und musste des Öfteren entscheiden, wessen Wille nun zu beachten ist. „Deshalb sollte man nicht nur frühzeitig klären, wer irgendwann mal die rechtliche Betreuung übernimmt, sondern auch möglichst genau festlegen, was einem wichtig ist.“
140.000 Betreuungsverfahren in Niedersachsen
Allerdings bemühen sich immer weniger Niedersachsen darum, wer sie im Ernstfall vertreten soll. Das belegt auch eine neue Studie des Bundesjustizministeriums. „Die Verantwortung wird immer mehr auf den Staat abgewälzt“, sagt Havliza. Das wiederum bedeutet für die Amtsgerichte, die die rechtlichen Betreuer zuweisen, stetig mehr Arbeit. Führten die Gerichte 1995 noch rund 65.000 Betreuungsverfahren, so waren es Anfang dieses Jahres schon 140.000 Verfahren. In vielen Fällen geht es darum, einen Angehörigen zum Betreuer zu bestellen. „Die Familie steckt in solchen Fällen meist in einer emotional sehr aufgewühlten Situation und kann sich nicht einigen, wer die Pflicht übernehmen soll“, sagt Havliza. „Manche sind so durcheinander, dass sie Angst davor haben, etwas falsch zu machen, und deshalb die Verantwortung nicht übernehmen wollen.“
Ehrenamtliche Betreuer in 76.000 Verfahren
Ist die Familie nicht in der Lage, die Verantwortung zu tragen, oder es gibt keine Angehörigen, so bestimmt das Gericht einen professionellen Betreuer. Das können Personen sein, die von Beruf her Betreuer sind, im Auftrag der Behörden betreuen oder ehrenamtlich arbeiten. Im vergangenen Jahr wurden in 76.000 Verfahren ehrenamtliche Betreuer zugewiesen. Dazu zählen Familienangehörige, aber auch Fremde, die sich in ihrer Freizeit als Betreuer engagieren. Sie werden von einem der 56 niedersächsischen Betreuungsvereine ausgebildet und begleitet. Noch ist das Sozialministerium verantwortlich für die Betreuungsvereine. Doch ab Ende des Jahres soll das Justizministerium zuständig sein, um die wichtigsten Aspekte des Betreuungsrechts in der Hand einer Behörde zu bündeln.
Wir werden die Fördersumme ab dem kommenden Jahr auf zwei Millionen verdoppeln. – Justizministerin Barbara Havliza
Momentan werden die Vereine mit rund einer Million Euro jährlich vom Land gefördert. Doch das reicht im Hinblick auf die steigenden Kosten nicht aus. „Deshalb werden wie die Fördersumme ab dem kommenden Jahr auf zwei Millionen verdoppeln“, kündigte Havliza an. Wurden im Jahr 2005 noch rund 52,2 Millionen Euro Betreuerentschädigung gezahlt, so stieg die Summe bis 2016 auf etwa 93,5 Millionen Euro an. Der Löwenanteil geht an die Berufsbetreuer, sie bekamen im vergangenen Jahr rund 63 Millionen Euro für ihre Arbeit. Die Entschädigung für die ehrenamtlichen Betreuer und jene, die im Verein tätig sind, belief sich auf rund 14, beziehungsweise 16 Millionen Euro. Verfügt der Hilfsbedürftige über Vermögen, so muss er seine Betreuung selbst zahlen. Kann er für die Betreuung nicht aufkommen, so übernimmt der Staat die Kosten.
Von Isabel Christian