
Gerhard Radeck ist seit neun Jahren Landrat in Helmstedt, dem Landkreis mit einer sehr langen östlichen Grenze, die früher mit Stacheldraht und Mauern versehen war. Wie beurteilt er den Stand der deutschen Einheit? Gibt es noch „Wessis“ und „Ossis“?
Rundblick: Herr Radeck, spürt man noch, wer aus dem Westen und wer aus dem Osten kommt? Gibt es Unterschiede in der Mentalität?
Radeck: Solche Unterschiede mag es geben, denn natürlich sind die Menschen in ihrer Kindheit besonders geprägt worden. Das war für diejenigen, die in der DDR aufgewachsen sind, sicher anders als für diejenigen, die in der Bundesrepublik groß wurden. Aber offen gesagt: Ich kann diese Unterschiede kaum noch wahrnehmen, denn ich habe jeden Tag mit Leuten zu tun, die diesseits und jenseits des früheren „Eisernen Vorhangs“ leben. Das ist hier alles sehr normal geworden. Womöglich ist hier und da noch Thema, dass das Gehaltsniveau im Westen höher ist als im Osten. Diese Ungerechtigkeit wird zuweilen beklagt, ein großer Aufreger aber ist sie nicht.
Rundblick: Es gibt also einen regen Austausch? Woran liegt das?

Radeck: Helmstedt ist als mittelgroße Stadt – wir haben 25.000 Einwohner – schon ein Anziehungspunkt für viele Sachsen-Anhaltiner, die hierher zum Einkaufen fahren. Umgekehrt zieht es viele unserer Einwohner nach Magdeburg, Braunschweig oder nach Wolfsburg, wenn sie etwas größere Besorgungen machen wollen. Außerdem pendeln viele von Helmstedt aus zu ihrem Arbeitsplatz nach Sachsen-Anhalt. In der Kreisverwaltung, die ich als Landrat führe, kommt ein großer Anteil, ich würde sagen mindestens ein Drittel der Beschäftigten, gebürtig aus dem ostdeutschen Nachbarland oder wohnt sogar noch dort. Das ist ein gefühlter Wert, denn wir führen darüber natürlich nicht Buch. Aber der Ost-West-Austausch gehört in jedem Fall bei uns zum täglichen Erleben.
Rundblick: Und? Spürt man bei vielen Ostdeutschen, dass sie sich benachteiligt gegenüber dem Westen fühlen – oder vernachlässigt?
Radeck: Nein, das kann ich nicht bestätigen. Sicher, einzelne mögen mit der deutschen Einheit hadern – das betrifft vor allem Leute, die über 50 sind und 1989 einen anderen Berufsweg eingeschlagen hatten, als die Mauer fiel, das System zerbrach und in der Folge viele Arbeitsplätze verloren gingen. Aber im Großen und Ganzen spürt man das bei uns nicht. Wenn es überhaupt einen Gegensatz gibt, der in den politischen Diskussionen sichtbar wird, dann ist es eher der zwischen der Landbevölkerung und der Stadtbevölkerung. Nehmen wir das Thema ÖPNV: Das Angebot an Bussen und Bahnlinien auf dem Land ist ausgedünnt, da schaut man in manchen Dörfern schon irritiert auf die Debatten etwa in Braunschweig oder Magdeburg, wo solche Probleme gar nicht bestehen. Dass sich in manchen ländlichen Gebieten der Eindruck verstärkt, man werde „abgehängt“, kann schon ein Problem für die Demokratie bedeuten. Hier sollten wir alle aufpassen, dass kein Ort den Anschluss verliert.

Rundblick: Das Protestverhalten findet ja sehr häufig seinen Ausdruck in hohen Wahlergebnissen für die AfD. Ist die AfD ein Ost-Phänomen?
Radeck: Nein, sicher nicht. Im Osten hatte sie zu einem früheren Zeitpunkt größere Erfolge – aber mittlerweile ist sie auch bei uns stärker geworden. Das liegt nicht an überzeugenden Personen, die in der Kommunalpolitik als Kümmerer und Ansprechpartner zur Verfügung stünden. Eher haben wir erlebt, dass die AfD in einigen Bereichen gar nicht genügend Kandidaten fand, um alle ihre errungenen Mandate auch besetzen zu können. Tatsächlich ist es ein Protestverhalten, das sich in einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Politik äußert. Vielen Leuten geht es nicht schnell genug, sie vermissen eine wirtschaftliche Erholung oder eine entschlossene Politik in der inneren Sicherheit und mehr Bemühungen um eine reduzierte illegale Migration.
Rundblick: Aber Sie sagen ja auch, dass sich diese Unzufriedenheit bei Ihnen in Helmstedt gar nicht so sehr in einem Ost-West-Gegensatz äußert…
Radeck: Ja, die Unzufriedenheit ist auch hier spürbar. Aber ich habe gute Kontakte auch nach Sachsen, meine Frau stammt aus der Nähe von Riesa. Dort werden, so wie ich es wahrnehme, die Vorbehalte gegen den Westen noch viel schärfer formuliert. Mich erinnert das oft auch an meine eigentliche Heimat, Bochum im Ruhrgebiet. Dort bin ich geboren und habe meine ersten Lebensjahre verbracht. Das Unverständnis über den Osten Deutschlands ist dort viel ausgeprägter als bei uns im Landkreis. Es ist mir schon mal passiert, dass mich jemand aus Bochum gefragt hat: Sag mal, lag dieses Helmstedt nicht damals in der DDR? Wir haben auch im Westen Menschen, die den Osten Deutschlands gar nicht aus eigenem Erleben kennen und ihn auch nicht kennenlernen wollen.
Rundblick: Nochmal zu Helmstedt: Ihre Region hat doch nach 1990 durchaus negative Einschnitte hinnehmen müssen. Die Zonenrandförderung ging verloren, der Osten hingegen wurde besonders unterstützt. Hat das nicht auch eine Menge Neid und Missgunst erzeugt?
Radeck: Das ist sehr vielschichtig. Ja, es gab die Zonenrandförderung. Sie hing aber auch damit zusammen, dass östlich von Braunschweig zu Zeiten der deutschen Teilung nur wenig Leben herrschte. Sie konnten hier sonntags auf der Autobahn Fahrrad fahren, so wenig Verkehr hat es gegeben. Mit dem Fall der Mauer hat sich das schlagartig verändert, das hat sich auf die ganze Region ausgewirkt. Die Investitionsförderung für die frühere DDR hat auch bewirkt, dass einige Firmen ihren Stammsitz aus dem Westen nach Sachsen-Anhalt verlegt haben. Das war ärgerlich. Stärker noch hat uns aber das Ende des Braunkohleabbaus getroffen und das Ende des Kraftwerks Buschhaus. Dieser Strukturwandel und seine Folgen sind bis heute spürbar, auch in fehlenden Einnahmen in den kommunalen Kassen. Glücklicherweise haben viele Mitarbeiter, die im Kohlebergbau nicht mehr benötigt wurden, bei Volkswagen eine neue Chance bekommen. In den Jahren nach 1989 überwog lange Zeit die Freude über die Wiedervereinigung – bei uns besonders, weil plötzlich Kontakte zu den östlich gelegenen Nachbarkommunen möglich waren, die uns vorher verweigert wurden. Das hat manches, was an neuen Problemen auftrat, überdecken können.

Rundblick: Im September 2026 sind nicht nur Kommunalwahlen in Niedersachsen, sondern auch Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt. Die Umfragen sehen einen Rekord-Wahlsieg für die AfD voraus. Wie sollte Ihre Partei, die CDU, reagieren – und was sollten SPD, Grüne und FDP tun?
Radeck: Das Allerwichtigste ist: Die Politiker müssen mit den Menschen reden, auf die Menschen zugehen. Das gilt nicht nur für die Wahlkampfzeit. Politiker müssen ansprechbar sein und zuhören, sie müssen die Probleme ernst nehmen und an ihrer Lösung arbeiten. Hier nenne ich vor allem zwei Themen: die Bildung und die Integration. Es geht beispielsweise nicht an, dass in einigen Grundschulklassen ein Drittel der Kinder nicht richtig deutsch sprechen kann. Die Lehrer, die dort dann einen guten Unterricht sicherstellen müssen, sind überfordert. Wir müssen solche Kinder erst einmal einen intensiven Sprachkurs bieten. Hier muss noch vieles weit besser organisiert werden als es bisher ist.
Rundblick: Ist das auch eine Aufgabe für eine Kommune, etwa für den Kreis Helmstedt?
Radeck: Die Kommunalpolitik kann vieles leisten, und sie hat den großen Vorteil, nah an den Bürgern zu sein. Doch dazu im Widerspruch steht die finanzielle Überforderung. 2015, kurz vor meinem Amtsantritt als Landrat, hatte der Kreis Helmstedt eine Verschuldung von 108 Millionen Euro, das konnten wir bis 2022 auf acht Millionen Euro drücken. Inzwischen sind wir bei einem strukturellen Defizit für 2026 von jährlich 60 Millionen Euro – weil die Kosten einfach ausufern. Es ist Aufgabe des Landes, die Kommunen finanziell vernünftig auszustatten und bei Aufgaben und Standards zu entlasten, also: Keine neue Aufgabe ohne Finanzierung! Viele wichtige kulturelle Angebote, die für die Stärkung der Demokratie wichtig sind, können wir uns nur mit ausreichender Finanzausstattung leisten, etwa die Musikschule, die Jugendzentren oder auch die Wirtschaftsförderung.