6. Aug. 2018 · Kommentar

Ist die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Leute sinnvoll?

Sieben Jahre nach dem Aussetzen der Wehrpflicht diskutiert die Politik in Deutschland über deren Wiedereinführung. CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hat eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen angeregt. Lesen Sie hierzu ein Pro & Contra von Klaus Wallbaum und Martin Brüning.  

PRO: Sieben Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht wäre eine Rückkehr zu einer verbindlichen Pflichtzeit für junge Leute in der Armee – oder einen sozialen Institution – ein angemessener Schritt, und das nicht nur, um die konservativen Seelen zu beruhigen, meint Klaus Wallbaum.

In jüngster Zeit ist es in Mode gekommen, den Rechtsphilosophen und späteren Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde zu zitieren: Der freiheitliche Staat, hatte dieser schon vor rund 40 Jahren beschrieben, fuße auf Voraussetzungen, die selbst nicht aus seinen eigenen Prinzipien abzuleiten sind. Man kann das in verschiedener Richtung interpretieren, beispielsweise im Zusammenhang mit der Leitkultur-Debatte: All jene, die den „Verfassungspatriotismus“ als ausreichend für die Werte und Normen der Gesellschaft bezeichnen, müssen ziemlich bald die Schranken ihrer Argumentation erkennen. Die Grundwerte im Grundgesetz, etwa freie Entfaltung der Persönlichkeit, Religionsfreiheit und Koalitionsfreiheit, beschreiben Rechte von Individuen, aber kaum deren Grenzen und auch nicht das Wertesystem einer Gesellschaft. Also reichen sie allein nicht aus, um kulturelle Eigenarten der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu kennzeichnen.

Systemwidrig wäre die Wehrpflicht nicht

Ähnlich ist es auch mit dem Thema Dienstpflicht. Darf ein freiheitlicher Staat, der die möglichst ungehinderte Entfaltung der Persönlichkeit in den Mittelpunkt seines Selbstverständnisses stellt, jungen Menschen für bestimmte Zeit eine Einschränkung dieser Rechte zuzumuten? Antworten kann man hier mit Böckenförde: Über die Prinzipien des Grundgesetzes würde eine solche Auflage für junge Menschen sicher hinausgehen. Systemwidrig wäre sie deshalb aber noch nicht. Nun gibt es mehrere Begründungen für die Dienstpflicht. Sie kann in der Armee oder in einer sozialen Organisation angemessen und richtig sein aufgrund der weltpolitischen Lage. Als die Wehrpflicht in Deutschland vor sieben Jahren kippte, war sie – nach etlichen Verkürzungen der Wehrdienstzeit – schon in Verruf geraten. Nur ein Teil der „tauglichen“ jungen Männer wurde „gezogen“, an den anderen ging der Kelch vorüber. Das System wurde als ungerecht empfunden, außerdem gab es nicht wenige Wehrpflichtige, die ihre Zeit „beim Bund“ als vertane Zeit erleben mussten. Auf der anderen Seite war der Druck der Wirtschaft spürbar, ausgebildete junge Leute möglichst schnell – ohne Umwege über den Wehrdienst – an die Werkbänke zu bringen. Diese Bedingungen haben sich heute, angesichts des spürbareren Fachkräftemangels, noch verschärft. Aber auf der anderen Seite hat sich auch die Sicherheitslage verändert. Ist Deutschland – real und mental - für den Fall gerüstet, dass es zu einer weltpolitischen Krise mit möglichen militärischen Verwicklungen kommen sollte? Die Vorstellung, dass junge Leute automatisch für gewisse Zeit ausgebildet werden an Waffen oder in Krankenhäusern, kann all den Zweiflern in dieser Frage eine Erleichterung geben.

Symbol für wachsende Bindungslosigkeit

Das ist nur ein Argumentationsstrang, der sich auf die unsicher gewordene Weltlage wegen der Auflösung der Blöcke und der wachsenden Unberechenbarkeit der Bündnisse (Stichwort Trump und sein Verhältnis zur Nato) aufbaut. Der zweite ist grundsätzlicher, wertebezogen. Die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 wurde von vielen Konservativen, vor allem in CDU/CSU und SPD, als Symbol für eine wachsende Bindungslosigkeit zwischen Staat und Gesellschaft interpretiert. Sehr drastisch, aber treffend, hat dies der rechtsextreme Vordenker Götz Kubitschek schon vor zwölf Jahren ausgedrückt: „Ich kann unserem Staat nicht verzeihen, dass er meine Neigung zum Dienst, meine Neigung zur Pflichterfüllung, meine Neigung zum Respekt vor der politischen Führung gering achtet. Ich kann unserem Staat nicht verzeihen, dass er mich und große Teile meiner Generation in dem Bewusstsein oder auch bloß dumpfen Gefühl aufwachsen lässt, dass wir nicht gebraucht werden.“ Wenn man das systemfeindliche Motiv von Kubitschek einmal ausklammert, dürfte die von ihm beschriebene Haltung auch von vielen Anhängern demokratischer Parteien geteilt werden.

Es muss eine "Dienstgerechtigkeit" geben

Die Überlegung von CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, die Forderung nach Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht in das neue Grundsatzprogramm ihrer Partei zu schreiben, wäre aus dieser Sicht der Versuch, mit einer symbolischen Korrektur der Wehrpflicht-Aussetzung von 2011 die eigene Partei mit den konservativen Kräften zu versöhnen. Ob dafür dieses Zeichen allein reicht, darf man bezweifeln. Immerhin aber wäre ein Staat, der seinen Bürgern als Gegengewicht zu vielen Rechten und Freiheiten auch Pflichten auferlegt, eine Akt der Abkehr vom Modell eines übertrieben schwachen weil in jeder Hinsicht zurückgenommenen Staates. Sinnvoll wäre diese Wende von Kramp-Karrenbauer aber nur, wenn damit gleichzeitig wichtige Lehren aus dem Dahinsiechen der einstigen Wehrpflicht gezogen werden: Erstens muss es eine „Dienstgerechtigkeit“ geben – die Fälle derer, die etwa aus gesundheitlichen Gründen nicht tauglich sind, müssen wirklich Ausnahmen bleiben, die Masse der jungen Männer und Frauen muss herangezogen werden. Das kostet viel Geld, einen riesigen organisatorischen Aufwand und viel Vorbereitungszeit. Zweitens müssen die jungen Leute bei ihrem Dienst wirklich etwas lernen, sie müssen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern können, die Dienstzeit darf keine verlorene Zeit werden. Dafür müssten Strukturen geschaffen werden, die die Bundeswehr und auch die sozialen Institutionen derzeit nicht haben. Drittens darf der Pflichtdienst nicht als lästige und sinnlose Wartezeit aufgefasst werden, sondern als Bereicherung – und das ist wohl am schwierigsten zu gewährleisten, weil solche Einstellungen nicht per Weisung zu verordnen sind, sondern ein entsprechend aufnahmebereites politisches Klima erfordern. Mail an den Autor dieses Kommentars  

CONTRA: CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: den Nachwuchsmangel in der Trümmer-Truppe Bundeswehr lindern und gleichzeitig einmal wieder den konservativen älteren Männern in der CDU einen Gefallen tun – auf Kosten von 700.000 jungen Menschen pro Jahrgang. Ein rückwärtsgewandter Vorschlag, der hoffentlich keine Mehrheit finden wird, meint Martin Brüning.

So richtig hat es die Union nie verwunden, dass ausgerechnet die FDP ihr damals die vorläufige Aussetzung der Wehrpflicht abgerungen hat. Die Liberalen, die bereits seit Jahren für eine Abschaffung eingetreten waren, hatten im Jahr 2009 die nur noch sechsmonatige Wehrpflicht im Koalitionsvertrag durchgesetzt. Es war der Anfang vom Ende einer 57-jährigen, inzwischen anachronistischen Tradition. Schon ein Jahr später schlug Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vor, die Wehrpflicht auszusetzen – und er konnte sich der Unterstützung des liberalen Koalitionspartners sicher sein. Überraschend ist heute noch, dass ausgerechnet eine schwarz-gelbe Regierung vollzog, was nicht einmal Rot-Grün zuvor geschafft hatte: den jungen Menschen ihre Freiheit zurückzugeben und zugleich eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit abzuschaffen. Denn mit der Wehrgerechtigkeit war es zum Zeitpunkt der Abschaffung der Wehrpflicht bereits seit vielen Jahren nicht mehr weit her. Zuletzt mussten gerade einmal 12 Prozent eines Jahrgangs (24 Prozent der jugendlichen Männer) ihren Wehrdienst ableisten. Wer einen guten Arzt kannte oder an den richtigen Beamten im Kreiswehrersatzamt geriet, der kam um den Wehrdienst herum. Die Wehrpflicht war damals schon ein totes Pferd, das die Union nun sieben Jahr später noch einmal zu reiten versucht.

Verlorene Zeit

Jetzt ist die Zeit, in der Männer wieder ihre Erinnerungen hervorkramen. Das sei doch damals bei der Bundeswehr alles eigentlich ganz schön gewesen, eine tolle Kameradschaft. Und die Gewaltmärsche durch deutsche Wälder klingen auf einmal wie entspannte Rucksacktouren in den Sommerferien. In der Realität ist jungen Menschen noch nie so viel Zeit gestohlen worden wie während der Wehrpflicht. Brüllende Unteroffiziere, viel Alkohol, und wer bei den ständigen Pausen durch Fehlorganisation noch kein Raucher war, wurde beim Bund zu einem. Irgendwie musste das ständige Warten ja überbrückt werden. Skurril ist auch die Pro-Wehrpflicht-Argumentation eines CDU-Politikers, der fragte, wo sich sonst Manager-Sohn und Arbeiterkind in unserer Gesellschaft noch mal so nahe kommen würden wie auf einer Stube beim Bund. Mit diesem Argument würde die Wehrpflicht allerdings zum Reparatur-Kitt für eine verfehlte Bildungspolitik. Denn eigentlich sollten sich Manager- und Arbeiterkind doch in der Schule treffen, oder?

Man kann einer Armee nicht vorwerfen, dass sie in ihren Führungsstrukturen inzwischen noch stärker aus der Zeit gefallen ist, als sie es damals schon war. Aber dadurch ist es eben nicht überraschend, dass die Attraktivität dieses Arbeitgebers für alle gut Qualifizierten, die an Waffen und Kriegseinsätzen ein eher mäßiges Interesse haben, doch eher überschaubar ist.


Die Zahl derjenigen, die gerne zur Bundeswehr gingen, war schon vor zehn oder 20 Jahren überschaubar. Deshalb ist es auch wenig verwunderlich, dass es nach dem Übergang zur Freiwilligenarmee kein besonders großes Interesse an einem Job bei der Bundeswehr gab. Man kann einer Armee nicht vorwerfen, dass sie in ihren Führungsstrukturen inzwischen noch stärker aus der Zeit gefallen ist, als sie es damals schon war. Aber dadurch ist es eben nicht überraschend, dass die Attraktivität dieses Arbeitgebers für alle gut Qualifizierten, die an Waffen und Kriegseinsätzen ein eher mäßiges Interesse haben, doch eher überschaubar ist. Nach dem Erlkönig-Prinzip „Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt“ nun einfach wieder die Pflicht einzuführen, einem unbeliebten Arbeitgeber ein Jahr lang zu dienen, kann nicht der richtige Weg sein. Hinzu kommt, dass sich die Rolle der Bundeswehr weiter geändert hat. Mag sein, dass in den eigenen Reihen manche noch den Feind im Osten sehen. Aber in der Realität braucht es eine hochspezialisierte Truppe für gefährliche und schwierige Auslandseinsätze und keine Wehrpflicht-Praktikanten, die dreimal ein Gewehr zerlegt und zusammengesetzt haben.

Branchen brauchen keine Praktikanten

Die neue Dienstpflicht ist weder für die Pflege noch für die Bundeswehr eine Lösung. Beide Seiten leiden, wie andere Branchen auch, unter dem Fachkräftemangel. Wer Lücken schließen will, könnte die Dienstpflicht gleich auf Spediteure oder die Bauwirtschaft ausweiten. Aber auch diese Branchen brauchen keine Praktikanten, sondern Spezialisten. Und alle müssen ihren eigenen Weg finden, um für Mitarbeiter attraktiv zu sein. Klar ist, dass weder das Pflegeheim noch die Kaserne zu einem schicken Open-Office für Hipster werden können. Aber auch in diesen Berufen wird es möglich sein, durch Veränderungen an Attraktivität zu gewinnen. Eine angemessenen Bezahlung und die Sicherheit des Arbeitsplatzes sind dabei nur zwei Ansatzpunkte, die allerdings alleine nicht ausreichen werden.

Applaus von der AfD

CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer versucht derweil, mit dem Vorschlag einer Dienstpflicht zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Auf der einen Seite setzt sie darauf, damit den Personalmangel bei der Bundeswehr und in der Pflege zu lindern. Auf der anderen Seite hofft sie, den konservativen Flügel in der Union ebenso friedlich zu stimmen wie die ältere Generation in einer Partei, deren Durchschnittsalter bei 60 Jahren liegt. Nicht überraschend, dass vor allem von der Alt-Herren-Partei AfD Applaus für den Vorschlag einer Dienstpflicht kommt. Moderne Politik für nachfolgende Generationen macht man so nicht. Umfragen zufolge fühlt sich die breite Mehrheit der jungen Menschen von der Politik nicht repräsentiert. Warum nur? Mail an den Autor dieses Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #133.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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