31. Aug. 2023 · 
Soziales

Interview: „Freiwilligendienste sollen attraktiver werden – aber das Gegenteil geschieht“

Der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen, Dr. Ralf Selbach vom DRK-Landesverband Niedersachsen, und sein Vize, Caritas-Direktor Dr. Gerhard Tepe, sind unglücklich mit den aktuellen Sparplänen der Bundesregierung für den Bundeshaushalt 2024. An vielen Stellen solle gekürzt werden, das bedrohe bewährte Strukturen. In der Pflege engagiere sich der Bund zu wenig. Selbach und Tepe äußern sich im Interview beim Besuch der Redaktion des Politikjournals Rundblick.

Klaus Wallbaum (links) und Anne Beelte-Altwig (rechts) interviewen Gerhard Tepe (2.v.l.) und Ralf Selbach. | Foto: Link

Rundblick: Woran denken Sie, wenn Sie die aktuellen Haushaltspläne der Bundesregierung betrachten?

Selbach: Die geplanten Kürzungen bedrohen wichtige Strukturen – und wir laufen dann Gefahr, dass wir Fachkräfte nicht mehr bezahlen können und entlassen müssen. Was einmal weggebrochen ist, lässt sich erfahrungsgemäß nur schwer wiederaufbauen. Besonders ärgerlich sind die Vorstellungen für den Freiwilligendienst, zu dem das Freiwillige Soziale Jahr und der Bundesfreiwilligendienst zählen. Sie unterstützen die Fachkräfte, und sind eine wichtige Chance zur Nachwuchsgewinnung und eigener Persönlichkeitsentwicklung.

Tepe: Vorgesehen sind bundesweit Kürzungen von 78 Millionen Euro für die Freiwilligendienste, in Niedersachsen sind das ca. acht Millionen Euro. Übersetzt heißt das, dass wir in unserem Bundesland über 2000 Freiwillige weniger beschäftigen können. Und das in einer Situation, in der viele Sozialeinrichtungen jede helfende Hand dringend brauchen. In der Corona-Zeit hatten wir erklärt, mehr für die Jugend tun zu wollen. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ist auch von einer Ausweitung die Rede. Die Haushaltspläne besagen nun das Gegenteil.

Rundblick: Sie könnten die Stellen auf jeden Fall besetzen?

Selbach: Ja, so ist es. Wir mussten bisher sogar schon Anfragen ablehnen. Das dürfte künftig wohl verstärkt nötig werden. Dabei sollte man den Sinn des Freiwilligendienstes erkennen: Wir führen junge Menschen an die sozialen Berufe heran. Im besten Fall beginnen diese im Anschluss oder im späteren Verlauf ihres Lebens dann eine entsprechende Ausbildung. In der Politik wird viel über ein „soziales Pflichtjahr“ gesprochen, das übrigens wesentlich teurer wäre und wir nicht brauchen. Lieber sollte man auf das Engagement von jungen Menschen, sich freiwillig zu engagieren aufbauen und diese dabei unterstützen. Nur muss der Bund dann auch ausreichend Geldmittel dafür bereitstellen.

Ralf Selbach im Gespräch mit Anne Beelte-Altwig. | Foto: Link

Rundblick: Wo drohen noch Einschnitte?

Tepe: Die Migrationsberatung ist so ein Fall. Die geplanten Kürzungen betreffen ein Drittel der bisherigen Zuschüsse – und das in einer Situation, in der wir die stärkste Zuwanderung seit der Nachkriegszeit haben. Wir müssen die Menschen doch in Arbeit vermitteln, ihnen die deutsche Sprache beibringen. Wenn der Staat und die sozialen Organisationen die Flüchtlinge bei der Integration in die Gesellschaft nicht unterstützen, gerät der gesellschaftliche Frieden in Gefahr. Die Kommunen sind schon am Limit, die geplanten Kürzungen verschärfen die Lage noch. Zudem soll auch noch die angekündigte Mittelerhöhung für die Asylverfahrensberatung ausbleiben.

Rundblick: Die Pflegereform ist die nächste offene Baustelle…

Selbach: Genau. Wir beklagen hier die Untätigkeit des Bundes. Er müsste mehr Geld ins System bringen – entweder über einen höheren Zuschuss an die Kranken- und Pflegeversicherung oder aber, indem die Beitragssätze weiter angehoben werden. Tatsache ist, dass 2022 die Bezahlung der Pflegekräfte angehoben wurde, die Personalkosten stiegen vielerorts um 25 Prozent. Viele ambulante Dienste und stationäre Einrichtungen haben aber große Probleme, diese erhöhten Ausgaben zu refinanzieren. Stationäre Einrichtungen können aufgrund des Personalmangels einzelne Betten und teilweise ganze Stationen zudem nicht belegen und bleiben somit auf den darauf entfallenden Fixkosten sitzen. Einige Einrichtungen mussten bereits Insolvenz anmelden.

Tepe: Hinzu kommen die drastisch gestiegenen Eigenanteile: Wenn sich Pflegebedürftige und ihre Angehörigen den Aufenthalt in einem Heim nicht mehr leisten können, muss der Sozialhilfeträger einspringen. Dabei besteht die Gefahr, dass Menschen vor einem Einzug ins Heim zurückschrecken, obwohl die Versorgung zu Hause nicht mehr sichergestellt werden kann. Die Lage wird derweil immer dramatischer, die Zahl der Pflegebedürftigen wächst – während immer weniger Fachkräfte auf dem Markt sind. Wir unterstützen daher den Ansatz der „Konzertierten Aktion Pflege in Niedersachsen“ in den Bereichen Fachkräftegewinnung, Unterstützung der pflegenden An- und Zugehörigen sowie Entbürokratisierung und Digitalisierung, Verbesserungen herbeizuführen.

Klaus Wallbaum und Gerhard Tepe (rechts). | Foto: Link

Selbach: Ein Beitrag zur Lösung des Problems kann auch darin liegen, die Pflegeassistenz-Ausbildung von bisher zwei Jahren auf ein Jahr zu verkürzen. Niedersachsen geht diesen Weg hoffentlich jetzt, und wir finden das gut. Auf jeden Fall ist es von großem Vorteil, wenn wir hier mehr Flexibilität bekommen. Das gilt im Übrigen auch bei der Frage, wie die Arbeitsbedingungen gestaltet werden. In einer Sozialstation in Hannover erprobt das DRK jetzt eine Vier-Tage-Woche. Die Einrichtung erhofft sich dadurch, die Belastung der Beschäftigten und damit die in der Pflege allgemein exorbitant hohen Krankenstände zu reduzieren. Dies soll dazu beitragen, den Beruf generell attraktiver zu machen und neue Beschäftigte zu gewinnen. Im Ergebnis sollen die Kapazitäten für die Versorgung damit letztendlich steigen. Dies ist ein Pilotprojekt, das wir im Juli gestartet haben.

Rundblick: Viele Ihrer Wünsche richten sich an den Bund. Haben Sie auch Erwartungen an die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen?

Tepe: Der Haushaltsplanentwurf der Landesregierung für 2024 liegt noch nicht vor. Wenn die Bundesregierung unter anderem stark spart bei Freiwilligendiensten, sozialen Beratungsdiensten und Flüchtlingsbetreuung, dann müsste das Land über Zuschüsse an die Träger solcher Einrichtungen einspringen. Wir sind gespannt, ob das geschieht. Viele Träger von Sozialeinrichtungen leiden zudem unter dem Problem der notwendigen Refinanzierung von Inflationsausgleichsprämien und Tarifsteigerungen beim Personal. Und anders als etwa die Kommunen können gemeinnützige Träger etwa von Krankenhäusern nicht so einfach die dortigen Defizite ausgleichen. Wir setzen große Hoffnungen auf den Landtag, dass er die Notlage erkennt und die nötigen Schritte beschließen wird.

Ralf Selbach und Gerhard Tepe (rechts). | Foto: Link
Dieser Artikel erschien am 1.9.2023 in Ausgabe #149.

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