Konsumforscher: Die Zukunft ist künstliches Fleisch
Prof. Nick Lin-Hi forscht an der Universität Vechta unter anderem zu nachhaltigem Konsum. Mit seinen kontroversen Thesen zum Fleischkonsum zieht er viel Aufmerksamkeit aber auch Kritik auf sich. Rundblick-Redakteur Niklas Kleinwächter sprach mit ihm über die Zukunft der Ernährungswirtschaft und über Fleisch aus dem Reagenzglas.
Rundblick: Prof. Lin-Hi, essen Sie eigentlich selbst noch Fleisch?
Prof. Lin-Hi: Natürlich, ich bin ein leidenschaftlicher Fleischesser. Allerdings weiß ich auch, dass der heutige Konsum nicht nachhaltig ist.
Rundblick: Wo liegt, Ihrer Meinung nach, das Problem?
Prof. Lin-Hi: Die heutige Fleischproduktion verursacht massive externe Effekte. Nur ein Beispiel: Etwa ein Drittel der Treibhausgase, die wir produzieren, kommt aus dem Ernährungssektor, wiederum die Hälfte davon aus der Nutztierhaltung. Das Problem wird sich zukünftig aufgrund von zwei Entwicklungen noch verschärfen: Zum einen haben wir weiterhin Bevölkerungswachstum – 2050 werden schätzungsweise knapp zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Zum anderen haben wir ein steigendes Wohlstandsniveau, was wiederum mit steigendem Fleischkonsum pro Kopf einhergeht. Beide Faktoren führen im Zusammenspiel geradewegs in die Katastrophe.
Wird das aktuelle Produktions- und Konsumverhalten auch dann noch akzeptiert sein, wenn es andere Möglichkeiten gibt?
Rundblick: Aus ökologischen Gesichtspunkten ist der aktuelle Fleischkonsum also nicht mehr zu verteidigen. Wie sieht es denn mit der ethischen Bewertung aus?
Prof. Lin-Hi: Zurzeit hat sich da ein pragmatischer Konsens durchgesetzt: Wir brauchen die Proteine, deshalb ist es in Ordnung, Tiere zu töten und Fleisch zu essen. Interessant wird es, wenn wir 20 Jahre in die Zukunft schauen. Wird das aktuelle Produktions- und Konsumverhalten auch dann noch akzeptiert sein, wenn es andere Möglichkeiten gibt?
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Rundblick: Was wird sich denn da in 20 Jahren verändert haben?
Prof. Lin-Hi: Wir werden Fleisch essen, das außerhalb von Tieren gezüchtet wird. Die Technik, kultiviertes Fleisch zu erzeugen, funktioniert bereits heute und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich dies durchsetzen wird. Übrigens können wir auch den Kuh-Magen im Labor nachstellen und so Milch produzieren. Derartige Alternativen bringen es mit sich, dass wir die Legitimität von Nutzierhaltung neu bewerten müssen.
Wenn das Schnitzel aus kultiviertem Fleisch nur noch halb so viel kostet wie heute im Discounter, dann dürfte auch der Verbraucher in Deutschland seine Skepsis ablegen.
Rundblick: Aber denken Sie, dass sich Fleisch aus dem Reagenzglas auch verkaufen lässt?
Prof. Lin-Hi: In Deutschland ist das zunächst schwierig, weil es hier eine hohe Skepsis gibt. Aber was würde passieren, wenn sich die politische Führung in China für kultiviertes Fleisch ausspricht? Von heute auf morgen hätten wir einen Markt mit fast 1,4 Milliarden Konsumenten für diese neue Form von Fleisch. Genau dann reden wir von riesigen Produktionsmengen, durch die wiederum die Produktionspreise drastisch fallen werden. Und wenn das Schnitzel aus kultiviertem Fleisch nur noch halb so viel kostet wie heute im Discounter, dann dürfte auch der Verbraucher in Deutschland seine Skepsis ablegen.
Rundblick: Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis man kultiviertes Fleisch im Supermarkt kaufen kann?
Prof. Lin-Hi: Vor Corona hätte ich auf zwei Jahre getippt. Jetzt verschieben sich die Schwerpunkte, deshalb kommen vielleicht noch einmal zwei Jahre dazu. Aber Mitte des neuen Jahrzehnts dürfte es das Produkt im Laden geben – ob auch bei uns in Deutschland, ist indes eine andere Sache. Ich wette aber mit Ihnen, dass in 30 Jahren auch hier Großeltern ihren Enkeln werden erklären müssen, dass sie früher tatsächlich noch Fleisch von Tieren gegessen haben.
Wenn wir nur in der Welt denken, in der wir leben, passiert nichts.
Rundblick: Mit solchen Thesen machen Sie sich bestimmt nicht überall beliebt.
Prof. Lin-Hi: Ich bekomme böse E-Mails von allen Seiten. Den Veganern handle ich aus den falschen Motiven heraus, die Landwirte sehen ihre Existenz bedroht. Dabei will ich die Landwirtschaft nicht abschaffen – sondern neu denken. Wir könnten aus Landwirten auch Landschaftswirte machen, die wir dafür bezahlen, dass sie sich um Flächen kümmern. Wir könnten auch dazu übergehen Algen oder Pilze zu züchten.
Rundblick: Das klingt nach radikalen Veränderungen für ein Agrarland.
Prof. Lin-Hi: Wenn wir nur in der Welt denken, in der wir leben, passiert nichts. Wir haben die Landwirtschaft zuerst industrialisiert und nun digitalisiert – aber wir verbleiben im selben Paradigma. Wir werden immer besser, aber wir wagen keinen Sprung. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Wir können permanent die Kerze optimieren, aber dann erfinden wir niemals die Glühbirne. Nur ein bisschen was zu machen, ist jetzt zu wenig.
Die Corona-Pandemie offenbart das Risiko der Übertragung von Tierkrankheiten auf den Menschen, was durch Massentierhaltung weiter befördert wird.
Rundblick: Was würden Sie der Politik raten, welchen Schritt sie als nächstes gehen müsste, um die Veränderung in der Ernährungswirtschaft voranzubringen?
Prof. Lin-Hi: Wichtig ist, dass die Politik mutig nach vorne blickt und deutlich macht, dass der Wandel alternativlos ist. Zwar ist der Klimaschutz wieder in den Hintergrund gerückt, aber es gibt neue Treiber: Die Corona-Pandemie offenbart das Risiko der Übertragung von Tierkrankheiten auf den Menschen, was durch Massentierhaltung weiter befördert wird. Hinzu kommen die Corona-Infektionen in den Schlachtbetrieben. Wir sehen nun, welche Folgekosten entstehen können, wenn wir weitermachen wie bisher. Wir alle müssen jetzt raus aus unserer Komfortzone.