Die Zeiten, in denen bundesweit die sogenannten „Kammerrebellen“ der Wirtschaft das Fürchten lehrten, liegen nun schon ein paar Jahre zurück. Inzwischen ist Ruhe eingekehrt, bei manchen selbsternannten Reformern wohl auch Resignation. Die IHK Hannover, die mit Abstand größte Industrie- und Handelskammer unter den insgesamt sieben in Niedersachsen, wählt noch bis zum 7. September ihr Parlament neu, die sogenannte „Vollversammlung“. Die dortigen Abgeordneten vertreten dann landesweit 180.000 Unternehmen zwischen Diepholz im Nordwesten und Göttingen im Süden. Für 80 Mandate bewerben sich 141 Kandidaten.

Aber von Wahlkampf, politischem Streit oder heftigen Debatten über wirtschaftspolitische Grundfragen ist nichts zu spüren. Und „Rebellen“ sind auch rar. Es herrschen statt Streitigkeiten eher Harmonie und Geschlossenheit. Die beiden Spitzen der IHK Hannover, Hauptgeschäftsführerin Maike Bielfeldt und Präsident Gerhard Oppermann, finden das auch gar nicht so schlecht: „Wir sind das Sprachrohr der regionalen Wirtschaft und müssen deren Interessen bündeln. Politischer Streit hilft da nicht weiter“, sagt Oppermann.
„Wir sind das Sprachrohr der regionalen Wirtschaft und müssen deren Interessen bündeln. Politischer Streit hilft da nicht weiter.“
Aber ist das wirklich so – und erinnert diese IHK-Vertreterwahl nicht an viele ähnliche Wahlen, die entpolitisiert wirken, eher langweilig sind und viele Wahlberechtigte wegen der Ununterscheidbarkeit der Bewerber ratlos werden lassen? Denken wir an die Sozialwahlen, die es auch in diesem Jahr gab. In vielen Krankenkassen fielen die Wahlen aus, weil sich die Gewerkschaften, Interessensverbände und Arbeitgeberseite schon vorab verständigt hatten. Sie teilten Plätze in den Gremien über vorherige Absprachen untereinander auf, ohne dass die Wähler noch die Chance hatten, zwischen verschiedenen Richtungen, politischen Schwerpunkten oder profilierten Kandidaten auszuwählen. Manche Beobachter gehen mittlerweile so weit, dass sie den äußerst geringen Einfluss der Selbstverwaltungsorgane bei Krankenkassen und Rentenversicherungen auf die Tatsache zurückführen, dass die Sozialwahlen bewusst entwertet wurden und für engagierte Kandidaten damit höchst unattraktiv geworden sind.
Da über verschiedene sozialpolitische Wege gar nicht mehr richtig gestritten werde, könnten die hauptamtlichen Kräfte der Krankenkassen die Linie ihrer Organisationen weitgehend selbst bestimmen – ohne die störende Selbstverwaltung. Und dann sind da noch die Kirchenvorstandswahlen, die in den Gemeinden immerhin bedeutend sein müssten – denn Kirchenvorstände sind etwa für die Frage, wer im Ort Pfarrer wird, durchaus einflussreich. Aber auch hier sind vor Ort richtige „Wahlkämpfe“ höchst selten. Meistens ist man froh, wenn überhaupt einer zur Übernahme eines Ehrenamtes bereit ist.
Wenn man IHK-Präsident Oppermann und seine Hauptgeschäftsführerin Bielfeldt fragt, widersprechen sie vehement der These, die IHK-Wahlen seien undemokratisch. Sie stünden nicht in einer Linie mit Kirchenvorstands- und Sozialwahlen. Es gebe doch tatsächlich verschiedene Gruppen in der Vollversammlung, diese sind den „Fraktionen“ ähnlich. Sie werden nach Branchen eingeteilt, die größten sind das Produzierende Gewerbe, der Handel und die Dienstleistungen, die jeweils in neun Landkreis-Untergruppen unterteilt sind. Bei den Dienstleistungen etwa hat die Region Hannover 14 Mandate, der Kreis Göttingen zwei – jeweils eines ist für die Kreise Diepholz, Hameln, Hildesheim, Holzminden, Nienburg, Northeim und Schaumburg reserviert.
Die kleineren Branchen wie Energieversorgung, Kreditinstitute, Versicherungen, Telekommunikation, Gastwirtschaft und Vermittler treten jeweils mit einer Liste für den gesamten Kammerbezirk an – und die Zahl ihrer Mandate in der Vollversammlung ist dann auch geringer. Diese Gruppeneinteilung erinnert an eine Ständevertretung, bei der die jeweiligen Branchen ihre berufsspezifischen Anliegen in der Vollversammlung vortragen und ihre eigene Berufsgruppe repräsentieren können. Jedes Unternehmen kann auch nur die Bewerber in der eigenen Gruppe wählen. Anhand der Gewerbesteuerzahlungen und der Zahl der Auszubildenden, die Grundlage sind für die Mitgliedsbeiträge der Firmen für die IHK, werden zuvor die Kräfteverhältnisse der einzelnen IHK-Mitgliedsunternehmen ermittelt. Das ist der Maßstab für die Mandatsverteilung in der Vollversammlung – und der wandelt sich. Vor Jahren waren etwa die Banken noch mit sieben Mandaten dabei, inzwischen sind es nur noch fünf.

Was in diesem Modell nicht vorkommt, ist eine politische Einordnung etwa in die progressiven Kräfte, die in der Wirtschafts-, Verkehrs- oder Regionalpolitik eher linke (oder auch ökologische) Ansichten vertreten und die konservativen, die beispielsweise die Verdrängung des Autoverkehrs aus Innenstädten kritisch beleuchten. Auf der Internet-Seite der IHK Hannover haben die Kandidaten immerhin angegeben, weshalb sie antreten – und hinter jedem Bild befindet sich ein knappes Zitat. Die meisten jedenfalls haben sich beteiligt.
Große politische Weichenstellungen indes lassen sich daraus dann nicht ablesen. Ob man mehr hätte erwarten können? Immerhin gibt es in der Vollversammlung der IHK schon seit jeher Grundsatzdebatten und politische Weichenstellungen, wie sich Oppermann erinnert. Wenn es etwa um die Erreichbarkeit der Innenstädte gehe, würden verschiedene Positionen laut – auch solche, die Verständnis für die „Verkehrswende“ zeigen. Die IHK-Vollversammlung habe im vergangenen Jahr auch über die Energiepolitik debattiert. Mehrheitlich seien die meisten Mitglieder für den – damals noch möglichen – Weiterbetrieb der Atomkraftwerke gewesen.
Die Skeptiker waren in der Minderheit, aber sie waren auch immerhin erkennbar. Über E-Fuels, die Alternative zum Elektroauto, habe man auch intensiv diskutiert. Aber im Wahlakt selbst angelegt sind solche Auseinandersetzungen nicht. Der Internetauftritt der Bewerber wirkt ganz so, als seien sie alle eine große Gruppe von Unternehmern, die alle in die gleiche Richtung gehen wollen. Wenn man ein paar engagierte Kommunal- und Landespolitiker entdeckt, etwa Jörg Bode (FDP), Patrick Döring (FDP) oder Oliver Kiaman (CDU) und Knud Hendricks (SPD), dann muss man über deren politischen Standort schon Bescheid wissen.
Aus den jeweiligen Wahl-Statements auf der Website jedenfalls wird man darüber nicht schlau. Hendricks von der Arbeiterwohlfahrt gehört nun aber zu denen, die sich die Adressen der Firmen in seiner Sparte besorgt und die Wahlberechtigten angeschrieben haben. Er wollte den Wählern sagen, was er im Fall einer Wahl in die Wege leiten will. Üblich für alle Bewerber ist dieses Verhalten eher weniger.

Vermutlich ist auch der Zeitgeist in der Wirtschaft gerade so, dass man meint, in allen Interessenverbänden, Kammern und Vereinigungen eher zusammenhalten zu müssen. „Unser Ziel ist das gemeinsame Auftreten der Wirtschaft“, betont etwa Bielfeldt. Nur wenn die Wirtschaft mit einer Stimme spreche, könne sie die Politik beeindrucken – etwa mit guten Stellungnahmen zu den Gesetzentwürfen der Regierung. So berechtigt diese Haltung ist, so unattraktiv ist auf der anderen Seite aber auch die IHK-Wahl als solche. Bei der vergangenen Wahl der IHK Hannover vor vier Jahren lag die Wahlbeteiligung gerade mal bei 10,4 Prozent. Das spricht gerade nicht für lebendige Demokratie.
Vor wenigen Jahren war das noch anders. Überall im Lande regten sich fortschrittliche, meistens wohl unkonventionelle Unternehmer, die sich an den alten IHK-Strukturen rieben. Sie schimpften auf die Zwangsmitgliedschaft aller Firmen in der Kammer, die ihrer Ansicht nach zu hohen Mitgliedsbeiträge und das überaus selbstbewusste Auftreten einiger IHK-Funktionäre, das sie als unangemessen bezeichneten. In Schwerin, in Stuttgart, in Kassel, in Berlin und in Hamburg begehrten sie auf, beteiligten sich an den Wahlen zu den IHK-Vollversammlungen. Mancherorts ging das über Seilschaften von vielen neugegründeten Kleinstunternehmen, die dann im Verbund eine Rebellion anzetteln wollten.
In Hamburg errangen sie 2017 die absolute Mehrheit – und setzten einen eigenen Präsidenten durch. Nach nicht einmal zwei Jahren jedoch warf der enttäuscht das Handtuch und beklagte, für die nötigen Reformen keinen ausreichenden Rückhalt zu haben. So erfolgreich mancherorts also die Rebellen waren, wenn es darum ging, die alten Mächte zu stürzen, so klar scheiterten sie bei der Erneuerung. Kai Boeddinghaus, der seit vielen Jahren für eine Demokratisierung der IHK-Wahlen eintritt und sich im „Bundesverband für freie Kammern“ (BffK) engagiert, attestiert der IHK Hannover immerhin in einigen Punkten Fortschrittlichkeit – etwa beim Internetauftritt vor der Wahl. Im großen und ganzen aber hat er schon Zweifel, ob diese Wahlen tatsächlich so politisch ausgerichtet sind, wie sie es seiner Ansicht nach sein sollten.