„Ich habe auf meiner London-Reise ein zutiefst zerrissenes Land vorgefunden“
Kommt es nun zu einem „harten“ Brexit? Oder gelingt auf den letzten Metern vor dem Austrittstermin Ende März noch die Verständigung auf einen gleitenden Übergang? Niedersachsens Europaministerin Birgit Honé wollte die Chance für Gespräche in der Hauptstadt Großbritanniens nutzen – und kam mit einem ernüchterten Eindruck zurück. Die SPD-Politikerin äußerte sich im Gespräch mit Martin Brüning.
Rundblick: Was ist die Bilanz Ihrer Reise, auf einen Nenner gebracht?
Honé: Ich bin mit vielen Fragen dort hingefahren – und mit noch mehr Fragen zurückgekommen. Ich wollte selbst spüren, was dort vor sich geht. Ein zutiefst zerrissenes Land habe ich vorgefunden. Was wird in Großbritannien geschehen, wenn das Land nicht mehr Mitglied der EU ist? Viele Briten selbst haben dazu offenbar keine Vorstellung.
Rundblick: Wie äußert sich das?
Honé: Manche Gesprächspartner wirkten auf mich so, als befänden sie sich in einer Art Blase. Sie bewegen sich innerhalb ihres eigenen Kosmos mit eigenen Regeln und eigener Logik. Aber sie schienen nicht zu realisieren, was um sie herum vor sich geht. Nehmen wir das Beispiel des sogenannten „Backstop“, also die Regelung für die Grenze zwischen Nordirland und Irland, die nun EU-Außengrenze wird und nach Überzeugung der EU offen bleiben muss, damit kein neuer Bürgerkrieg entsteht. Viele in London sind doch ernsthaft der Meinung, das ginge sie nichts an und diese schwierige Frage müsse allein die EU beantworten. Eine Abschätzung dessen, was sie mit ihrer Politik anstoßen oder anrichten, findet nicht statt.
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Rundblick: Wie hart wird ein harter Brexit, wenn er denn kommt?
Honé: Die EU und auch die Bundesregierung sind sehr weit in ihren Überlegungen, wie die Härten eines abrupten EU-Austritts kurzfristig abgefedert werden können. Nur: Auch die britische Seite muss sagen, wie sie sich das vorstellt – aber dort ist man anscheinend überhaupt nicht vorbereitet. In meinen Gesprächen mit Abgeordneten und auch Vertretern der Regierung schimmerte immer wieder durch, wie wenig konkret die Überlegungen auf britischer Seite sind. Wenn es zu einem harten Brexit mit neuen Grenzen und Zollschranken kommt, wird es bei uns zunächst unsere exportorientierte Wirtschaft treffen. Aber auch die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger werden etwas merken – spätestens dann wenn sie in Großbritannien Urlaub machen wollen.
Rundblick: Was müssen die niedersächsischen Unternehmen befürchten?
Honé: Viele deutsche Firmen in Großbritannien warten erst einmal ab. So will beispielsweise BMW sein Werk in Oxford nach dem Brexit für vier Wochen schließen – da man gar nicht abschätzen kann, wie sich alles entwickeln wird. Manche sind bereits jetzt zu Vorratshaltung und -lagerung übergegangen. Bei uns wird das produzierende Gewerbe betroffen sein, da die Just-in-time-Produktion erheblich erschwert wird. Wenn nach dem Brexit wieder lange Staus an den Grenzübergängen mit unkalkulierbaren Wartezeiten entstehen, dann ist das für die Wirtschaft, die auf Zulieferungen von der britischen Insel angewiesen ist, erst einmal ein Schlag. Bund, Länder und Kommunen richten sich darauf ein, beispielsweise durch mehr Zollbeamte. Wir erwarten auch Mehrarbeit für Veterinäre, wenn es etwa um die Kontrollen der Ein- und Ausfuhr von Tieren und Fleisch geht. Das Landwirtschaftsministerium wird im Kontakt mit den Landkreisen das nötige in die Wege leiten. Wenn es nicht sofort ausreichend Veterinäre geben sollte, müssen eben Ad-hoc-Gruppen gebildet werden.
Rundblick: Was hören Sie von den Briten, die in Niedersachsen leben?
Honé: Lange Zeit dachten alle: Das wird irgendwie noch mal gut gehen. Aber die Entwicklung in London, die Heftigkeit der Streitigkeiten dort, lässt das gegenwärtig nicht vermuten. Ich bekomme viele besorgte Zuschriften von Briten, die hier leben und nun zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, um sich abzusichern. Wir hatten dazu auch geraten. Aus vielen Briefen spricht die Sorge vor der ungewissen Zukunft, um ihre Altersversorgung und ihre Krankenversicherung. Die Deutschen, die in Großbritannien wohnen, sind nun ihrerseits vom britischen Staat aufgefordert worden, sich über eine Handy-App registrieren zu lassen. Diese App gibt es aber nur für Android-Geräte. Stellen, wo man direkt von Mensch zu Mensch seine Registrierung vornehmen lassen kann, sind sehr rar. Auch deshalb fühlen sich etliche EU-Bürger in Großbritannien stigmatisiert und sind sehr irritiert – zumal viele von ihnen schon lange in Großbritannien leben und nun gar nicht verstehen, was mit ihnen geschieht.
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Rundblick: Wie blicken die Briten auf die EU?
Honé: Viele Brexit-Verfechter sind aktuell verwundert, weil die übrigen 27 EU-Staaten seit Beginn des Verhandlungsprozesses mit einer Stimme sprechen. Das hatten sie nicht erwartet und eher darauf gesetzt, dass sich die EU-Mitgliedstaaten aufspalten lassen. Nun beklagen die „Brexiteers“ eine besonders harte Haltung der EU. Dabei sind die EU 27 einfach nur solidarisch untereinander. Aber auch die „Remainer“, die für einen Verbleib in der EU sind, schauen mit Sorge nach Brüssel. Sie befürchten, dass das Vereinigte Königreich dort zukünftig nicht mehr richtig wahrgenommen wird. Das Absurde ist, dass die Briten die EU in einer Zeit verlassen, in der die EU-Kommission einen Reformprozess in Gang gesetzt hat, der Abstand nimmt vom radikalen Prinzip der Einstimmigkeit. Anstatt sich an der Reformdebatte zu beteiligen, die für Großbritannien Chancen eröffnet, verlässt das Land die Gemeinschaft. Für mich bleibt jedenfalls klar: Auch bei einem Brexit haben wir großes Interesse daran, dass es Großbritannien weiter gut geht. Das Land bleibt ein wichtiger Teil von Europa, wir brauchen angesichts der weltpolitischen Herausforderungen die Briten weiter an unserer Seite.
Rundblick: Was meinen Sie: Brauchen wir ein zweites Referendum oder ein Verschieben des Austrittstermins?
Honé: Zu Beginn meiner Reise dachte ich noch: Diese beiden Varianten sind noch möglich. Nun weiß ich: Großbritannien ist derart zerrissen, dass beides nicht zu einer Befriedung beitragen kann. Für ein zweites Referendum wäre es jetzt bis Ende März sowieso zu knapp. Und vermutlich würde das Ergebnis erneut knapp ausfallen und den bestehenden Graben vertiefen. Die Briten sind den Streit für oder gegen den Brexit leid und wollen jetzt eine Entscheidung. Allerdings bleibt die Hoffnung, dass in einigen Jahren die Frage der Kooperation mit der EU von britischer Seite wieder anders beantwortet werden könnte.
Rundblick: Die Brexit-Debatte wirft einen Schatten auf die Europawahl…
Honé: Ja, das ist so. Gleichzeitig macht die Brexit-Debatte aber auch deutlich, wie wichtig es ist, sich an Abstimmungen zu beteiligen. Ich wünsche mir eine hohe Wahlbeteiligung – und ich wünsche mir, dass die Gruppe der Europaskeptiker, die jetzt im Parlament einen Anteil von rund 20 Prozent haben, nach der Wahl Ende Mai kleiner wird.