Leben wir in einer veränderten Gesellschaft? Muss die politische Kultur gerettet werden? Gefährden die Populisten unsere Zukunft? Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) äußert sich in seinem Göttinger Wahlkreisbüro im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick.

Thomas Oppermann (links) und Klaus Wallbaum. Foto: Rundblick

Rundblick: Herr Oppermann, wird heute tatsächlich anders politisch diskutiert und gestritten als vor 20 oder 30 Jahren – oder ist das nur die Behauptung von Leuten, die alles dramatisieren?

Oppermann: Wir erleben tatsächlich eine ziemliche Verrohung der Gesellschaft. Das hat auch mit den sozialen Netzwerken zu tun. Die Anonymität, die dort herrscht, hat die Verbreitung von Hass und Respektlosigkeit begünstigt. Ich glaube nicht, dass diese Entwicklung von der Politik ausgegangen ist – aber sie ist dort jetzt, in Landtagen und im Bundestag, angekommen. Sichtbarer Ausdruck dafür ist das Agieren vieler AfD-Politiker in den Parlamenten. Das macht mir große Sorge. Wir hatten über Jahrzehnte hinweg eine robuste Demokratie – jetzt auf einmal erscheint alles sehr verletzlich.

Rundblick: Befindet sich die deutsche Politik in einer Krise?

Oppermann: Sie wird zumindest von zwei Seiten zunehmend unter Druck gesetzt. Zum einen von außen durch Politiker wie Wladimir Putin in Moskau, Donald Trump in Washington oder Recep Tayyip Erdogan in Ankara. Sie machen keinen Hehl aus ihrer Verachtung der liberalen Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben. Und viele von ihnen wollen Europa spalten, sie mischen sich ein und stiften Unfrieden. Hinzu kommt eine Gefährdung der Demokratie von innen. Überall in Europa, und inzwischen eben auch bei uns in der Bundesrepublik, wächst der Populismus. Die Strategie der Rechtspopulisten in Deutschland zielt drauf ab, die Institutionen in unserer Gesellschaft zu delegitimieren – und der Demokratie zu schaden. Die Parteien werden als „Altparteien“ verunglimpft, die Wissenschaft wird unter Ideologieverdacht gestellt und Entwicklungen wie der Klimawandel werden abgestritten. Die Medien werden als „Lügenpresse“ beschimpft und der Justiz wird Parteilichkeit unterstellt. Dagegen müssen wir uns wehren.


Lesen Sie auch:

Liberale Professoren starten Initiative für eine „Sammlungsbewegung der Mitte“

Warum der Fall Hitzacker Defizite in unserer politischen Kultur aufdeckt


Rundblick: Und wie kann das gehen?

Oppermann: Indem wir uns zunächst klar machen, dass es hier nicht um eine normale Auseinandersetzung in Sachfragen geht, sondern um einen Wertekonflikt. In unserer Demokratie müssen die Werte des Grundgesetzes Richtschnur für unser Handeln sein – der Respekt vor der Würde des anderen, vor den Freiheitsrechten und den demokratischen Mitwirkungsrechten. Wir müssen nüchtern feststellen, dass dieser Respekt nicht mehr selbstverständlich ist, und zwar nicht nur bei den völkisch-rassistischen Rechtsextremisten, sondern auch bei vielen Menschen, die wir gar nicht als rechtsextrem einordnen können oder dürfen.

Rundblick: Wie soll man denn mit der AfD umgehen? Beispielsweise mit den Provokationen, die diese Partei im Bundestag vorführt?

Oppermann: Ich rate hier zu drei Maximen. Erstens Gelassenheit, die Politik darf nicht über jedes Stöckchen springen, das ihr die AfD hinhält. Sonst haben die Rechtspopulisten zwar nicht die Meinungsführerschaft – aber die Debattenherrschaft. Zweitens Widerspruch. Das gilt auch außerhalb des Parlaments: Wenn Menschen verächtlich gemacht werden, muss man aufstehen und dagegenhalten – auch in der Straßenbahn, im Büro oder in der Kneipe. Wir brauchen mehr Zivilcourage. Und drittens Wachsamkeit. Die AfD hat zwar viele Sündenböcke zu bieten, aber keine echten Lösungen für die Probleme. Wir müssen sie stellen und nachhaken, wenn es um angebliche Alternativkonzepte geht. Es wird dann klar werden, wie überschaubar und klein ihre Vorstellungen von Veränderungen sind.

Rundblick: Ist es falsch, dass bisher kein Bundestagsvizepräsident von der AfD gewählt wurde?

Oppermann: Ich finde es verkehrt, der AfD Rechte auf Positionen zu verweigern, die jeder Fraktion im Bundestag zustehen. Diese Partei ist demokratisch gewählt worden, deshalb kann sie auch Rechte auf Mitwirkung beanspruchen. Aber ich verstehe heute, dass sich in keiner Fraktion bisher eine Mehrheit dafür gefunden hat, einem AfD-Kandidaten ausreichende Unterstützung zu geben. Zu oft haben AfD-Politiker durch pure Provokationen ihre Missachtung vor den Regeln und Abläufen im Bundestag gezeigt – erkennbar in der Absicht, ihre Geringschätzung gegenüber dem Parlament zum Ausdruck zu bringen.

Rundblick: Ein Wort zu Chemnitz und den dortigen Ausschreitungen. Gibt es in Ostdeutschen viel zu viele Nazis, wie manche Zeitgenossen schreiben?

Oppermann: Auslöser der Ereignisse war der Mord an einem Chemnitzer – und die Empörung und Betroffenheit darüber. Zunächst ist es legitim, diese Betroffenheit zu zeigen. Unerträglich ist es indessen, wenn Rechtsextreme, aber auch AfD-Abgeordnete diese Betroffenheit instrumentalisieren und zu Selbstjustiz aufrufen. Wer aber jetzt nur noch über die Rechtsextremisten spricht und nicht mehr über den Mord, der stößt den Menschen in Sachsen vor den Kopf und vergrößert damit die Distanz zu ihnen. Wir müssen sehr genau aufpassen, wie wir über solche Ereignisse reden.

Rundblick: Warum ist es zu dieser Krise in unserer Gesellschaft gekommen?

Oppermann: Ich sehe zwei Ursachen, die Finanzkrise und die Flüchtlingskrise. In der Finanzkrise hat sich der Staat unfähig gezeigt, den hart erarbeiteten bescheidenen Wohlstand vor dem Zugriff der Spekulanten zu schützen – die umfangreichen staatlichen Sicherungen und Schutzschirme, die nötig wurden, belegen das. In der Flüchtlingskrise ist der Eindruck eines Kontrollverlustes entstanden, ganz so, als ob die Schlepper bestimmen, wer nach Deutschland kommt und nicht die Bedürftigkeit das entscheidende Kriterium ist. Beides ist schlecht. Die Menschen erwarten zu Recht einen handlungsfähigen Staat, einen Staat, der in der Lage ist, Recht zu setzen und Recht auch durchzusetzen und zwar gegenüber allen – gegenüber kriminellen Schlepperorganisationen genauso wie gegenüber internationalen Konzernen, die sich durch Verlagerung ihrer Gewinne einer gerechten Besteuerung entziehen.