19. Apr. 2024 · 
Soziales

Erinnerungen ans KZ Auschwitz: Leon Weintraub erklärt, was für ihn „Überleben“ bedeutet

„Die zwanzig Minuten habe ich wohl überzogen“, sagt Leon Weintraub mit einem verschmitzten Lächeln. Im voll besetzten Vortragssaal des neuen Gebäudes der Ärztekammer in Hannover ist es sehr, sehr still geworden. Man möchte dem 98-Jährigen immer weiter zuhören, auch wenn es grauenvoll ist, was er erzählt. Seine genaue Beobachtungsgabe, seine glasklare Erinnerung an die sechs schlimmsten Jahre seines langen Lebens ziehen den ganzen Saal in ihren Bann. Er lässt die Bilder aus seinem Gedächtnis lebendig werden, die Schreie und die lähmende Stille, die Gerüche im Viehwaggon, in dem die überlebenden Bewohner des Ghettos von Lodz nach Auschwitz transportiert wurden, den beißenden Gestank des Desinfektionsmittels, den Geruch der verbrannten Menschen, der beständig über dem Lager hing.

Leon Weintraub, der das Vernichtungslager in Auschwitz überlebt hat, erzählt bei der Ärztekammer in Hannover aus seinem Leben. | Foto: Christian Wyrwa/ÄKN

Leon Weintraub steht kerzengerade am Rednerpult. Auch, als er hinterher mit Journalisten spricht, bleibt er so aufrecht stehen, bis er von den Gastgebern in einen Stuhl komplimentiert wird. „Ich bin klein, aber ich war immer aufrecht“, sagt er. Vielleicht war das der Grund, warum er von den Nazis nicht zum Sterben bestimmt wurde wie seine Mutter und seine Schwester, sondern zur Zwangsarbeit ausgewählt. „Meine Cousine konnte es nicht ertragen, von ihren Eltern getrennt zu werden“, erzählt er. Sie rannte hinüber auf die Seite, auf die ihre Eltern sortiert worden waren – und in den sicheren Tod. Der 13-jährige Leon wurde als Klempner und später als Elektriker eingesetzt. Er muss sich geschickt angestellt haben.

Die Arbeit ermöglichte ihm das Überleben – auch, als das Ghetto aufgelöst und die Bewohner nach Auschwitz deportiert worden waren. Eines Tages stieß er im Todeslager auf eine Gruppe nackter Häftlinge. Er erfuhr, dass sie ausgewählt waren, das Lager zum Arbeiten zu verlassen. „Ich hörte nur ,raus´“, erinnert sich Leon Weintraub. Er sah sich um: Keine Wachen in Sichtweite. Da riss sich der Teenager die Häftlingskleidung vom Leib und mischte sich unter die anderen Nackten. Mit ihnen gemeinsam wurde er neu eingekleidet und fortgebracht aus Auschwitz. Es war eine Rettung vor dem sicheren Tod. Denn wenige Tage später wurden alle anderen Jugendlichen aus dem Block 10, dem „Judenblock“, ermordet.

„Mich hat die Resilienz von Leon Weintraub beeindruckt – ebenso wie sein jungenhafter Charme“, erzählt Ärztekammer-Präsidentin Martina Wenker. Sie hat ihn 2023 kennengelernt, als ihm die Paracelsus-Medaille verliehen wurde, die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft. Bei dieser Gelegenheit fragte sie ihn, ob er nach Hannover kommen und die Ausstellung eröffnen würde, die die Eröffnung des neuen Sitzes der Ärztekammer begleitet. „Ich wüsste nicht, was dagegenspricht“, antwortete er prompt. Wenker erinnert sich, bei der Antwort etwas gestottert zu haben: „Naja, Sie sind 97 Jahre alt…“ Doch auf Weintraub war Verlass: Wie versprochen ist er aus Stockholm angereist.

Mit der Ausstellung „Fegt alle hinweg…“ erinnert die Ärztekammer an jüdische Mediziner, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden. 1938 hat man ihnen pauschal die Approbation entzogen. Zum Gedenken daran wurde 70 Jahre später die Wanderausstellung konzipiert und jetzt um Biographien aus Niedersachsen erweitert. Eröffnet wurde die Schau am Jahrestag der Befreiung des KZ-Außenlagers Ahlem, wo mitten in Hannover jüdische Menschen gequält wurden. Unter ihnen befanden sich auch vier Ärzte, wie Regionspräsident Steffen Krach in seinem Grußwort berichtete. Eine von ihnen war Dora Gerson. Sie musste ihre Praxis in Dresden schließen, nachdem sie die Approbation verloren hatte. In Ahlem behandelte sie inhaftierte Kinder und Jugendliche, bevor sie 1941 Selbstmord beging.

Die Ausstellung „Fegt alle hinweg...“ ist noch bis zum 3. Mai im neuen Gebäude der Ärztekammer an der Berliner Allee in Hannover zu sehen. | Foto: Christian Wyrwa/ÄKN

„Ärzte im Nationalsozialismus haben nicht nur geschwiegen, als ihre Kollegen verfolgt wurden“, sagte Gesundheitsminister Andreas Philippi bei der Eröffnung. „Sie haben auch Morde angeordnet und Morde vollstreckt.“ Aus dem moralischen Versagen dieser Kollegen, erklärte Martina Wenker, leitet die Ärztekammer eine Verantwortung ab, sich politisch für Demokratie und Vielfalt zu positionieren: „Schweigen ist mit dem ärztlichen Selbstverständnis unvereinbar.“

Leon Weintraub wurde quer durchs Deutsche Reich von einem Konzentrationslager zum nächsten transportiert, um dort Zwangsarbeit zu leisten. Schließlich wurde ein Transport von den Alliierten bombardiert. Die Wachen flüchteten und die Gefangenen waren sich selbst überlassen. Leon Weintraub war vom Fleckfieber geschwächt. Sein Lebenswille erwachte erst wieder, als er erfuhr: Drei seiner Schwestern hatten ebenfalls die Shoa überlebt. „Ich war nicht mehr allein auf der Welt.“ Im britischen Mandatsgebiet, hörte er, waren Studienplätze für Displaced Persons reserviert. Weintraub, der als Kind die Schule hatte verlassen müssen, bewarb sich in Göttingen für einen Studienplatz in Medizin. „Das hat doch keinen Sinn“, beschwor ihn der Professor.

Martina Wenker (von links), Leon Weintraub, Andreas Philippi, Steffen Krach und Marion Charlotte Renneberg stehen in der Ausstellung „Fegt alle hinweg...“ im neuen Gebäude der ÄKN. | Foto: Christian Wyrwa/ÄKN

Aber Leon Weintraub bewies einmal mehr seine Resilienz und blieb hartnäckig: „Lassen Sie es mich versuchen.“ Bis zum Physikum ging es gut, dann kam ein Brief: Ohne Abitur könne er nicht weiter studieren. „Ich war nicht der einzige, den das betraf“, erzählt er. Ehemalige Soldaten, die aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren, bekamen die Möglichkeit, ihr Abitur als externe Prüflinge nachzuholen. Weintraub setzte durch, dass er nicht schlechter gestellt wurde als diese Kommilitonen. Er fand Lehrkräfte, die ihn unterstützten – und eines Tages konnte er seiner jungen Familie verkünden: „Papa hat das Abitur bestanden.“

1950 musste Leon Weintraub nach Polen zurückkehren. Die Ostblock-Staaten hatten ihre Konsulate geschlossen und sein Stipendium wurde nicht mehr ausgezahlt. Weintraub wurde Gynäkologe in Warschau. „Mir war klar: Ich will zum Leben helfen“, erklärt er. Und er wollte Frauen helfen – denn der Beitrag der Männer zum Leben sei nur mikroskopisch, wie er sagt. 1969 wanderte er noch einmal aus: Der niemals ausgerottete Antisemitismus in Polen bewog ihn und seine Frau, nach Schweden umzuziehen. 2019 war er eingeladen, eine Rede zum Jahrestag der Befreiung in Auschwitz zu halten. Wo einst der Appellplatz war, meinte er wieder die Vibration des Bodens zu spüren: „Ich fühlte mich wieder wie der Häftling von damals.“

In seiner Rede warnte er davor, dass Nazi-Symbole in Polen wieder schick geworden seien. „Junge Leute tragen Nazi-Uniformen und feiern Hitlers Geburtstag“, kritisierte er. Hinterher sprach ihn der damalige Ministerpräsident Mateusz Morawiecki an: Das könne man so doch nicht sagen. Man müsse doch unterscheiden zwischen Nazis und Hitler-Anhängern. Diese Geschichtsvergessenheit gab für Weintraub und eine befreundete Journalistin den Anstoß, gemeinsam seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. „Die Versöhnung mit dem Bösen“, lautet der Titel der deutschen Ausgabe. „Die Wörter ‚Hass‘ und ,Rache‘ habe ich aus meinem Wortschatz gestrichen“, sagt Weintraub im Gespräch mit Journalisten: „Ich kämpfe nicht, ich wirke.“

Gesundheitsminister Andreas Philippi spricht bei der Eröffnung des Neubaus der Ärztekammer Niedersachsen und
der Eröffnung der Ausstellung „Fegt alle hinweg...“. | Foto: Christian Wyrwa/ÄKN
Dieser Artikel erschien am 19.4.2024 in Ausgabe #073.
Anne Beelte-Altwig
AutorinAnne Beelte-Altwig

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