Hilferufe aus Herzberg
Der Harz ist in der Krise. Der Kreis Goslar und der Altkreis Osterode leiden massiv unter Überalterung und Bevölkerungsverlust. Die Landschaft ist wunderschön, aber der Tourismus kommt vielerorts nicht richtig in Gang. Wir blicken heute in die 13.000-Einwohner-Stadt Herzberg.
Der Platz ist wunderschön, liegt auf einer Anhöhe. Parkplätze gibt es hier auch genug – und der Wald rundherum garantiert eine romantische Atmosphäre. Man könnte, wenn man wollte, im Innenhof des alten, prächtigen Welfenschlosses in Herzberg, erstmals erwähnt 1154, Konzerte aufführen und schöne Feste feiern. Das brächte Leben in diese Gegend. Doch der Zugang führt nur über eine enge Einfahrt, Fluchtwege fehlen – und so zerplatzt auch diese Idee wie eine Luftblase an den harten Realitäten der deutschen Bauvorschriften. Wie so vieles hier. In einem Teil des Schlosses ist ein Museum, in einem anderen das Amtsgericht, ein Flügel steht komplett leer. Im Restaurant hat es immer wieder neue Pächter gegeben – so keiner findet die zündende Idee, die viele Leute anlockt. Großveranstaltungen jedenfalls sind nicht zulässig.
Das ist sinnbildlich für diesen Ort: Herzberg ist wunderschön, ein kleines Städtchen zwischen Osterode und Bad Lauterberg, eingebettet in den Harz. Aber wie ein Touristenmagnet wirkt Herzberg nicht gerade, überall sieht man Anzeichen einer sterbenden Stadt. Manche sehen zwar schon viele Fortschritte, viele Bemühungen, sogar eine Aufwärtsentwicklung. Andere, wie der frühere Bürgermeister Gerhard Walter, sind eher pessimistisch gestimmt. Gibt es denn keine Hilfe, etwa das von der Landesregierung seit drei Jahren gepriesene „Südniedersachsenprogramm“? „Viele Ansätze sind falsch, wir brauchen entschlossenere Schritte“, sagt Gerhard Walter, der bis 2014 Bürgermeister von Herzberg war und heute als Kämpfer und Streiter für die Stadt unterwegs ist. Vor Jahren, sagt Walter, gab es kräftige Zuschüsse über das Städtebauförderungsprogramm. Das Pflaster in der Fußgängerzone wurde aufwendig erneuert – mit Mosaiksteinen. Alles vom Feinsten. Aber wofür? Das „Alte Forsthaus“, wunderbar gelegen, findet keinen Gastwirt als Betreiber. Der „Deutsche Kaiser“ einst Top-Adresse, steht seit 20 Jahren leer.
Der Gang durch die Fußgängerzone, an einem Sonnabend, ist ganz so wie an einem Sonntag in Hannover. Man sieht hier kaum Menschen. Aber das liegt daran, dass ganz viele Geschäfte geschlossen haben auf nicht absehbare Zeit. Ein Laden für Herrenmode, altbekannter Name in Herzberg, stellt im Schaufenster noch Zeugnisse seiner jahrzehntelangen Tradition aus – fast wie eine mahnende Erinnerung an die gute alte Zeit. In einer früheren Bäckerei ist jetzt ein Shisha-Geschäft eingezogen. Daneben zwei Häuser mit leergeräumten Schaufenstern, nebenan sind die Türen mit Zeitungspapier verklebt. Wenige Lichtblicke gibt es, eine größere Drogerie, die – so sagt Walter – sogar Kunden auch dem zehn Kilometer entfernten Bad Lauterberg anzieht. Dann ein Elektrogeschäft. Ein Kinobetreiber hält sich auch, floriert sogar. Das liegt wohl auch daran, dass er noch ein anderes wirtschaftliches Standbein hat und eine hohe Zahl an Gästen nicht zwingend zum Überleben braucht. Aber Bekleidung, Waren des täglichen Bedarfs? Fehlanzeige hier. Es gibt noch das „Kaufhaus Südharz“, das Möbel aus aufgelösten Haushalten aufbereitet und weiterverkauft. Ein „Esperanto-Cafe“ hat geöffnet, denn Herzberg gilt als eine der wenigen Städte, in denen diese Kunstsprache gehegt und gepflegt wird – deshalb kommen immer wieder auch internationale Gäste, allerdings, weil die Esperanto-Gemeinde nicht sehr groß ist, in überschaubarer Menge.
Warum wirkt Herzberg wie eine fast verlassene Stadt? Der Wirtschaft, sagt Walter, geht es eigentlich gar nicht so schlecht. Immer noch würden täglich rund 1000 Menschen mehr in die Stadt ein- als auspendeln, vor allem kämen viele zum Arbeiten aus Thüringen und Sachsen-Anhalt hierher. Sicher, die traditionellen Branchen sind im Schwinden begriffen. Eine Fabrik für Holzplatten, die Ikea beliefert, wanderte nach Polen ab. Mehrere Metallfabriken in der Region haben geschlossen. Aber die Papierfabrik floriert, und auch eine Druckerei, die Beilagen für Zeitungen herstellt, gedeiht ganz gut. Die Gastronomie aber bleibt ein Sorgenkind, und das nicht nur in der Fußgängerzone: Walter hat gezählt, dass in den vergangenen Jahren 25 Hotels und Gaststätten in Herzberg und seinen vier Ortsteilen geschlossen haben. Etliche Neueröffnungen habe es auch gegeben – aber keine habe sich lange halten können. Und wenn man die Gewerbesteuereinnahmen vergleiche, stamme nur ein sehr kleiner Teil von der Gastronomie – einige hunderttausend Euro. Die übrigen Fabriken aber, obwohl das nicht sehr viele sind, steuerten bis zu fünf Millionen Euro hinzu. „Gastwirtschaft und Fremdenverkehr allein können uns nicht helfen“, meint Walter. Er denkt auch, dass man für die vielen leeren Geschäfte in der Fußgängerzone vermutlich keine Nachfolger finden werde. „Ich würde dort Wohnungen anbieten“, sagt er. Ein zugkräftiges Argument hat er: „Hier kostet ein schönes Haus in der Innenstadt, in malerischer Umgebung, rund 50.000 Euro. Das ist fast geschenkt.“
Tatsächlich floriert der Immobilienmarkt in Herzberg, oft seien Niederländer unter denen, die kaufen – oft auch Spätaussiedler aus Russland oder Migranten. Viele von ihnen würden sich aber nicht in die Dorfgemeinschaft integrieren, nicht in den Vereinen oder bei der Feuerwehr mitmachen. Das sieht Walter durchaus mit Sorge. Andere Probleme bereiten die beiden Ortsteile Sieber und Lonau, die jeweils einige Kilometer von der Kernstadt Herzberg entfernt liegen – und in einem Tal umschlossen sind von wunderschönem Wald. Das ist pure Idylle – doch in Sieber, sagt Walter, steht heute schon jedes zehnte Haus leer und droht zu verfallen. Wird man diese Siedlungen irgendwann aufgeben müssen, wenn es in einigen Jahren mehr verlassene als bewohnte Häuser gibt? „Über diese Frage denkt niemand laut nach“, sagt Walter. Er selbst will „den Trend aufhalten, nicht umkehren“, und er schlägt vor: Große Verwaltungen könnten in Osterode oder Herzberg angesiedelt werden, nicht im ohnehin wachsenden Göttingen. Außerdem sollten nicht die großen Städte im Finanzausgleich mit Sonderzuweisungen belohnt werden, sondern die kleinen – denn dort, wie beispielsweise in Herzberg, seien die Probleme heute am größten. (kw)