Enttäuschte Gesichter in der Hamelner Weserberglandhalle. Warum haben die Grünen bei der Landtagswahl fünf Prozentpunkte verloren und die Regierungsbeteiligung verspielt? Der Vorstand hat zur Aussprache einen Landesparteitag angesetzt, und die Stimmung unter den 180 Anwesenden ist schon zu Beginn gedämpft. Anne Kura, Landesvorstandsmitglied aus Osnabrück, bringt es auf den Punkt: „70 Prozent der Bürger wollten in Umfragen unsere Regierungsbeteiligung, 38 Prozent stimmten unseren Inhalten zu – aber nur 8,7 Prozent haben uns dann tatsächlich gewählt. Da wäre doch sehr viel mehr drin gewesen.“

Die Landtagskandidaten werden geehrt. Foto: Wallbaum

Was waren die Ursachen? In Hameln treten mehr als 20 Delegierte ans Mikrophon und versuchen eine Analyse, die sich bisher – auch mangels wissenschaftlicher Daten – mehr auf Vermutungen stützt. Es gibt die Vertreter des linken Flügels, die das soziale Profil bei den Grünen vermissen, die Mutmaßungen über ein Jamaika-Bündnis auf Bundesebene als störend im Landtagswahlkampf empfunden haben und eine klare Ausrichtung auf SPD und Linke als nächste mögliche Partner wollen. Für sie ist die momentane Krise ein Anlass für eine klare Linksorientierung. Ein entsprechender Antrag, der vom hannoverschen Grünen-Politiker Liam Harrold begründet und vom Bundestagsabgeordneten Sven-Christian Kindler unterstützt wird, kommt dann kurzfristig doch nicht zur Abstimmung. In die Richtung dieses Vorstoßes geht auch Heiko Sachtleben aus Peine, der die Grünen auffordert, „endlich zu erkennen, dass die ökologische und die soziale Frage zusammengehören.“ Schließlich hätten die Grünen besonders viele Stimmen an die Linkspartei verloren.

Sven Kindler spricht beim Landesparteitag der Grünen. Foto: Wallbaum

Es treten aber auch Vertreter des Realo-Flügels auf, der seit Jahrzehnten von Landtagswahl zu Landtagswahl kleiner geworden ist in Landtagsfraktion und Landesverband. Und es gibt viele Stimmen, die jenseits der Flügelorientierung auch über taktische Fragen im Wahlkampf reden. Hätte man andere Themen nach vorne stellen und den Partner, die SPD, vielleicht auch mal angreifen müssen? „Wir haben zu viel von unserem Grün auf die rote Seite geschoben“, sagt Reinhard Riepshoff aus Harburg und bemängelt, dass einige Grünen-Kandidaten zur Erststimme für die SPD aufgerufen hatten – ohne dafür je einen Dank von der SPD bekommen zu haben.

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Die Parteiführung startet selbst mit der Selbstkritik. „Wir hätten lauter und frecher sein können“, sagt die Spitzenkandidatin und Fraktionsvorsitzende Anja Piel. Sie schränkt aber ein, dass die Einstimmenmehrheit im Landtag zu strikter Disziplin verpflichtet habe. „Wirtschafts- und Verkehrsthemen hätten wir stärker nach vorn stellen können“, meint der Landesvorsitzende Stefan Körner. „Soziale Teilhabe haben wir nicht ausreichend gespielt. Wir waren nicht sichtbar genug“, ergänzt die Körners Vorstandskollegin Meta Janssen-Kucz. Sehr viel weiter geht der bisherige Finanzexperte der Landtagsfraktion, Gerald Heere aus Braunschweig, der wegen seines schlechten Listenplatzes nicht ins Parlament zurückgekehrt ist. Der Absturz der Grünen in den Umfragen, sagt Heere, habe schon im Mai begonnen – zu einer Zeit, als die aktuellen Themen des Landtagswahlkampfes noch weit weg waren. Heere fragt, ob die Grünen ihre Experten genug pflegten, für alle Fachthemen überzeugende Antworten hätten und ob sie auch in den Großstädten ein attraktives personelles Angebot aufbieten könnten. „Wie ist es mit den Kontakten zur Wirtschaft? Schließlich haben 50 Großunternehmen gerade erst den schnelleren Ausstieg aus der Kohle gefordert. Haben wir Kontakt zu ihnen? Das sind doch unsere Partner.“ Darin wird Kritik am linken Flügel, der den Kapitalismus als Feind ansieht, erkennbar. Renate Schilling aus Oldenburg knüpft hier an: „Wie ist unsere Bestenauslese? Fördern wir unsere Experten genug – oder setzen wir nur auf regionale Ausgewogenheit und darauf, vor allem die Neuen zu fördern?“

 

Trittin beim Landesparteitag der Grünen

Viele Redner greifen die Frage auf, ob man die SPD vielleicht zu stark geschont hat. „Wir hätten kritischer mit der Kultusministerin umgehen müssen“, rügt Anne Kura (Osnabrück). „Wir waren sprachlos, was die Defizite in der Schulpolitik angeht“, meint Gerald Heere (Braunschweig). „Es war ein riesengroßer Fehler, das Thema Bildung nicht besetzt zu haben. Wir haben uns ohne Not den Heiligenstadt-Schuh angezogen“, urteilt die bisherige Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic aus Braunschweig. Auch Christian Meyer, Leitfigur des linken Flügels der Grünen, erkennt einige dieser Hinweise an: „Ja, wir hätten härtere Worte gegenüber dem Koalitionspartner finden müssen.“ Nach Ansicht der bisherigen Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz lag der Fehler auch darin, dass man rot-grüne Leistungen in der Innen- und Rechtspolitik im Wahlkampf gar nicht aufgegriffen und verbreitet hat – „obwohl doch alles in den Schubladen lag“.

Bei einigen Rednern allerdings geht die Selbstkritik noch weiter. „Unsere Minister waren nicht bekannt“, meinen Anna Kebschull aus Osnabrück-Land, Beate Oldewurtel aus Ostfriesland und Holger Stolz aus Walsrode. Für Heinen-Kljajic und Niewisch-Lennartz habe das besonders gegolten, sagt Oldewurtel. Ministerpräsident Stephan Weil sei auch von manchen Grünen als „Heilsbringer“ angesehen worden, rüffelt Kebschull. Man habe das Feld der SPD viel zu stark überlassen. „Manche Positionen, etwa zum Umgang mit Islamverbänden und mit der Inklusion, muss man auch mal nachbessern, wenn man merkt, dass viele Menschen es skeptisch sehen“, erklärt Gabriele Heinen-Kljajic. Helge Limburg aus Holzminden, bisher Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, vermisst bei vielen Parteifreunden „den wirklichen Willen, auch regieren zu wollen“. Das habe man in vielen Kreisverbänden im Wahlkampf gemerkt. Der Landtagsfraktion sei es auch schwer gefallen, eigene Haltungen – etwa in der Frage des Burka-Verbotes – kenntlich zu machen. „Es ist uns nicht gelungen, darzustellen, dass auch wir eine Vollverschleierung nicht gut finden.“ Stefan Wenzel, Vize-Ministerpräsident, lässt grundsätzliche Zweifel anklingen: „Treffen wir noch den richtigen Ton, haben wir noch die richtigen Methoden?“ Das Instrument von Mitgliederbefragungen und Kandidaten-Urwahlen müsse viel stärker eingesetzt werden.

Auch die Landesvorsitzende Janssen-Kucz spricht von „einem nötigen Erneuerungsprozess“, und sie will die Gremienstruktur der Partei, die Abläufe und die Arbeitsprozesse in der Landtagsfraktion auf den Prüfstand stellen. So werde es nötig, die Kompetenz der Grünen-Kommunalpolitiker viel stärker in die Politik der Landespartei einzubinden. „Manchmal stellen wir uns bisher viel zu oft selbst ein Bein“, sagt sie.  (kw)