Hannovers „Moskau-Connection“: Ein Buch, das dem Bundespräsidenten nicht gefallen dürfte
Über die geselligen Abende der Männerrunde um Gerhard Schröder, vornehmlich bei Bier und Tischfußballspiel („Krökeln“), ist schon oft geschrieben worden. Die Teilnehmer waren mehr oder weniger prominent, die Gesprächsthemen mehr oder weniger politisch. Häufig schwang bei diesen Berichten ein Ton der Anerkennung und des Respekts für die gelungene Netzwerkarbeit mit, häufig wurden sie auch nur als ulkig dargestellt. Alte weiße Männer mit vielen Anekdoten. Das neue Buch der beiden FAZ-Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner ist da anders.
Man kann es zwar nicht anklagend nennen, dazu sind die Vorwürfe nicht zugespitzt genug. Aber die These, die sich durch die knapp 300 Seiten der Darstellung zieht, ist eindeutig: Gerhard Schröder hat mit seinen Helfershelfern Deutschland in die Abhängigkeit zu Russland geführt, er hat den autoritären Charakter der Putin-Herrschaft ignoriert oder kleingeredet, er hat später selbst an Geschäften mit Russland verdient – und er war umgeben von treuen Gefährten, die seinen Kurs stets gestützt haben und Widerspruch nicht hören wollten.
Bingener ist seit 2014 Hannover-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Wehner war Moskau-Korrespondent und arbeitet jetzt in Berlin. Ein Enthüllungsbuch ist das Werk der beiden Reporter nicht geworden, das war wohl auch nicht ihre Absicht. Sie beschreiben vielmehr sonderbare Strukturen und Kommunikationsstränge, die zu einer verheerenden politischen Fehlentscheidung führten – der Energie-Falle. Waren wir alle blind angesichts der Gefahren, die mit der Abhängigkeit von russischem Gas entstanden? Waren wir alle blind gegenüber der Aggression Russlands? Bingener und Wehner verneinen das. In den deutschen Medien habe in den vergangenen 20 Jahren kein Mangel bestanden an fundierter Berichterstattung über die Russland- und Energiepolitik. Nur seien die warnenden Stimmen nicht durchgedrungen. Dass das wohl hauptsächlich an einem Netzwerk lag, in dessen Mittelpunkt Schröder war (und vielleicht noch ist), wird mit vielen Detailbeispielen erklärt. Daneben kommen, das räumen die Autoren offen ein, die Beleuchtung der CDU/CSU-Seite und der Rolle von Angela Merkel wohl ein bisschen zu kurz. Das kann indes die Tragweite und Bedeutung der Darstellung nicht schmälern.
Dies ist nun die Hauptthese: Der „sozialdemokratische Mythos“, nämlich die mit Willy Brandt verknüpfte Formel vom „Wandel durch Annäherung“, sei die Basis für eine pro-russische Politik, die den Dialog und das Geschäft über jede Vorsicht und Kontrolle stellt. Und das, obwohl Willy Brandt, wie im Buch beschrieben wird, seine Sichtweise auf Moskau immer wieder geändert hatte. Doch wer heute Zweifel daran äußere, dass die Entspannungspolitik von Brandt und vor allem von Egon Bahr die Grundlage für die deutsche Einheit gewesen sei, gelte in der SPD „als Ketzer oder kalter Krieger“. Unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ habe in der SPD auch ein ausgeprägter Anti-Amerikanismus gedeihen können – und an der Person Gerhard Schröder werde das besonders deutlich. Die Autoren meinen gar, die in ihrem Studium in Göttingen geprägten SPD-Politiker hätten eine Neigung zu dieser Richtung. So schildert das Buch mehrere interessante Konstellationen:
Das Schröder-Netzwerk
Der junge, zunächst betont linke und aufmüpfige Gerhard Schröder habe seine Wandlungsfähigkeit bewiesen. In den achtziger Jahren erst als Rebell gegen das Partei-Establishment, dann als guter Pragmatiker mit bürgerlicher Erscheinung in den Landtagswahlkämpfen seit 1986, später als „Genosse der Bosse“, also sozialdemokratischer Ministerpräsident mit Nähe zur Wirtschaft. Dieses Image habe verdeckt, dass sein Anti-Amerikanismus von Anfang an sehr ausgeprägt war und es auch blieb. Nach seinem Wahlsieg bei der Landtagswahl 1990 holte Schröder enge Mitarbeiter zu sich, die ihn bis in die Bundespolitik begleitet haben – und teilweise immer noch Einfluss haben. Es waren Frank-Walter Steinmeier (heute Bundespräsident) und Brigitte Zypries (zeitweise Bundesministerin).
Später gesellte sich dann Sigmar Gabriel (einst SPD-Chef) zu diesem Umfeld, auch Heino Wiese (einst SPD-Landesgeschäftsführer, später dann russischer Honorarkonsul) kam hinzu. Bingener und Wehner bezeichnen es so: Wiese sei der „Mann für das Grobe und für die Kontakte zu Russland“ gewesen, Steinmeier und Zypries seien diejenigen gewesen, die Schröders grobe Pläne im Detail umsetzten. Ständig sei Schröder auch umgeben gewesen von Publizisten und Journalisten, die sich von diesem spannenden Schröder angezogen gefühlt und ihn mit großer Sympathie begleitet hätten. Kaum jemand hat später aufgearbeitet, wie DDR-nah und kritisch zur Wiedervereinigung Schröder in den Jahren 1988 bis 1990 agierte.
Wirtschaftskontakte aus dem Krökel-Keller
Als die Preussag vor der Landtagswahl 1998 die Stahl-Sparte an Voest in Österreich abstoßen wollte, sprang Schröder ein – und erwarb für das Land Niedersachsen das Werk. Das wurde seinerzeit als SPD-interner Coup gewertet, da sich Schröder gegen die Interessen von West-LB-Chef Friedel Neuber, hinter dem NRW-Ministerpräsident Johannes Rau stand, durchgesetzt hatte. Aus der Preussag wurde der Tourismuskonzern TUI, und TUI-Chef Michael Frenzel zählte wiederholt zu den Teilnehmern der Krökel-Runden. Viel später stieg der russische Investor Alexei Mordaschow bei der TUI ein, das Geschäft soll auf Wieses Vermittlung zurückgehen.
Auch der Bauunternehmer Günter Papenburg wird erwähnt, ebenfalls jemand mit intensiven Geschäftskontakten in frühere Sowjetrepubliken. Im Buch heißt es dazu: „Heino Wiese fädelt den Einstieg des Oligarchen Mordaschow bei Frenzels TUI ein, die wiederum die Arena von Papenburg sponsort; Papenburg hält Anteile an dem Stahlunternehmen Salzgitter AG, das Schröder einst als Ministerpräsident mit Steuergeldern Frenzels TUI-Vorläufer Preussag abkaufte und das später Röhren für das von Schröder beaufsichtigte Unternehmen Nord Stream 2 sowie andere Pipeline-Projekte des Kremls liefert, dessen diplomatischer Vertreter in Hannover wiederum Wiese ist. Und alle genannten Personen treffen sich zeitweilig in einer gemeinsamen Loge bei Hannover 96.“
Das Gas als Gipfel der Abhängigkeit
Die Autoren schildern, wie zielstrebig sich der ausgebildete Geheimdienstmann Putin über persönliche Kontakte vor allem Schröder und seinem Umfeld genähert hat, wie bereitwillig er die neue Formel „Wandel durch Verflechtung“ zur Stärkung seiner Macht nutzte. Nach 2005 hätten sich auf dem deutschen Gasmarkt Gazprom, BASF und Wintershall auf der einen Seite, Ruhrgas und die EWE aus Oldenburg auf der anderen gegenübergestanden. Damals sei „mit Geheimdienstmitteln gekämpft worden“.
Immer wieder erwähnt wird auch Matthias Warnig, ein früherer Stasi-Mann, der mit der Zeit zu einem der wichtigsten Handlanger Putins wurde. 2012 vereinbart Gazprom mit Wintershall, dass die deutsche Firma sich aus dem Gashandel zurückzieht, Anteile an einem Erdgasfeld in Sibirien erhält und Gazprom die Hoheit über den Gasspeicher in Rehden bei Diepholz bekommt. Aus heutiger Sicht war das ein verhängnisvoller Schritt. Die Bundesregierung genehmigte das in der Amtszeit von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Das war, so legt die Lektüre des Buches nahe, nur möglich in einem Umfeld, das zum Hinterfragen der eigenen Rolle in der Russland-Politik nicht in der Lage war.
Dauerhafte Irrtümer der Mitstreiter
Bingener und Wehner beschreiben die Rolle vieler niedersächsischer SPD-Politiker, die sich über die Jahre zur Russlandpolitik geäußert haben – oder sogar dafür mitverantwortlich waren. Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier hätten Schröders Moskau-freundlichen Kurs mitgeprägt und getragen, auch gegen andere, pro-atlantische Stimmen in der SPD. Das sei noch spürbar gewesen, als sich 2017 die Moskau-kritische Linie in der SPD durchsetzte und Heiko Maas neuer Bundesaußenminister wurde. Auch Ministerpräsident Stephan Weil wird kritisiert – da er häufiger nach Russland reiste als in andere Länder, nach 2014 die Politik der Sanktionen wiederholt ablehnte und damit voll auf der Schröder-Linie gewesen sei. Immerhin wird Weil und Steinmeier bescheinigt, ebenso wie Manuela Schwesig, dass sie wohl keine persönlichen pekuniären Interessen mit ihrer Russland-Politik verfolgten, dass sie womöglich nur einer politischen Täuschung ausgesetzt waren. Bei Schröder, Gabriel und Wiese ergebe sich „ein anderer Eindruck“. Belege für ihren Verdacht indes liefern die Autoren an dieser Stelle nicht.
Schatten auf Frank-Walter Steinmeier
Stephan Weil und Frank-Walter Steinmeier sind die beiden noch aktiven Politiker in hohen Ämtern, deren Rolle in diesem Buch näher beleuchtet wird. Was Weil angeht, kommen zu den bereits bekannten Fakten nicht viele neue hinzu. Er hat seinen Irrtum auch schon vor Monaten eingeräumt. Für Frank-Walter Steinmeier, den heutigen Bundespräsidenten, gilt das zwar auch. Wegbegleiter meinen, er sei ernsthaft betroffen über viele Fehleinschätzungen, die ihm vor allem als Außenminister passiert sind.
Aber in mehreren Details im Buch wird geschildert, wie treu ergeben er in der Anfangszeit seines Wirkens gegenüber Schröder war, wie wenig er 2005 als neuer Bundesaußenminister bereit gewesen sei, kritische Hinweise auf Putin und sein Verhalten zu berücksichtigen. Menschenrechte habe er nicht so gewichtet, wie viele es von ihm erwartet hätten – und wie es einer seiner Vorgänger, Joschka Fischer, vorgelebt habe. Dass die SPD 2017 Heiko Maas zum neuen Außenminister erhob, einen Moskau-Kritiker, wird im Buch so beschrieben: „Andrea Nahles und Olaf Scholz wollten niemanden, der zur Schröder-Steinmeier-Gabriel-Connection gehört.“ Die parteiinterne Kritik an Maas kam anschließend übrigens besonders stark auch aus Hannover.
Reinhard Bingener/Markus Wehner: Die Moskau-Connection. Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit, 304 Seiten, ISBN 978-3-406-79941-9. Das Buch wurde gestern Abend in der Buchhandlung Leuenhagen und Paris in Hannover vorgestellt.
Dieser Artikel erschien am 15.03.2023 in der Ausgabe #048.
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